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Ritter, Gerhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1922, 7. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 2: Via antiqua und via moderna auf den deutschen Universitäten des XV. Jahrhunderts — Heidelberg, 1922

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https://doi.org/10.11588/diglit.38041#0106
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106

Gerhard Ritter:

Schreibweise mittelalterlicher Vorlesungstexte) mit weiten Zwischen-
räumen und mit breitem Rande aufgezeichnet. Die Interlinear-
glosse bringt eine kurze Erläuterung des Wortlautes; fast jedes
Wort erhält seine eigene Umschreibung; die Marginalglosse besteht
aus äußerst knappen Paraphrasen des Inhalts, zuweilen fast stich-
wortartig zusammengedrängt. Die ganze Arbeit bietet nichts als
eine sklavische Sinnerläuterung des aristotelischen Textes. Eben
das scheint also die von Stephan Hoest gerühmte Unterrichts-
methode zu sein. An den Geist des Lehrers stellte sie keine höheren
Ansprüche, als daß er zuvor selber den Text des Aristoteles auf
ähnliche Weise verstehen gelernt und die logischen Bücher des
philosophus einigermaßen im Gedächtnis habe. War das der ganze
Inhalt der Vorlesungen, und betrieb die via antiqua die Aufstellung
und Lösung von Quästionen und Bedenken ausschließlich außer-
halb der Vorlesungsstunden, in den Übungen und Disputationen?
Erörterte die via moderna im Gegensatz dazu ihre Quästionen auch
im Rahmen der Vorlesung? Es scheint so. Der modus legendi pro
via modernorum in der Fassung von 1501 bestimmt, daß jeder
Lehrer, sobald es nötig ist, in der Vorlesung eine zur Sache gehörige
Quästion aufstellen soll, die zur Erläuterung der Materie des
Textes im Sinne des Marsilius oder eines andern Schulhauptes der
„modernen“ Schule dient; auch soll er, wenn es nützlich und
angebracht erscheint, etwa aufstoßende Bedenken {dubia) auf-
greifen und erklären1.
Ist dies das wirkliche Verhältnis der beiden Unterrichts-
methoden, wie es praktisch in den Vorlesungen gehandhabt wurde,
dann muß man zweifeln, welcher von beiden man den Vorzug
geben soll. Denn ungeachtet aller Gefahr sophistischer Weit-
schweifigkeiten, die das legere cum questionibus unzweifelhaft mit
sich führte, läßt sich doch recht wohl vorstellen, daß es oft mehr
war als bloße Neigung zu dialektischer Klopffechterei, was den
Dozenten zu selbständigen Erörterungen im Anschluß an den Text
der Vorlage veranlaßte: es mochte wohl auch ein echtes Bedürfnis
nach wissenschaftlicher Selbstbetätigung und tiefer eindringender
Erfassung der Probleme dahin drängen.

1 Item quilibet iuxta materiam textui correspondentem moveat, si opus
fuerit, titulum questionis, in qua iuxta mentem Marsilii aut alterius principalis
de via moderna doctoris materiam textus per eum lecti dilucidet et, si expediens
videatur et locus permittat, dubia occurrentia explanet (a. f. a. III, 7b).
 
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