116
Gerhard Ritter:
Am radikalsten und gewagtesten hat Hermelink diese Konstruk-
tionen ausgebaut. Während die älteren Forscher in der Hauptsache
nur die religiösen Reformbestrebungen der deutschen Humanisten
und der neuthomistischen bzw. neuskotistischen Scholastiker im
Auge hatten und auf die immerhin unleugbare Ideenverwandtschaft
hinwiesen, die sich zwischen den beiden Gruppen aus der Gemein-
samkeit des Zieles: der Neubelebung der verfallenden kirchlichen
Kultur, ergab, suchte Hermelink darüber hinaus geradezu „das
Entstehen der eigentlich humanistischen Bewegung“ (nicht nur
auf religiösem Gebiete) in Deutschland „aus den Reformations-
bestrebungen der Kirche an Haupt und Gliedern“ zu erklären.
Der deutsche Humanismus soll danach nicht etwa einen Ableger
der italienischen Renaissance darstellen, sondern „italienische Re-
naissance und nordischer Humanismus laufen nebeneinander her,
als zwei parallele weitverzweigte Stromsysteme.“ Gewisse „An-
regungen und Förderungen“, die der deutsche Humanismus aus
Italien empfangen habe, werden nicht geleugnet. „Aber es waren
nur Zuflüsse; der Ursprung der Bewegung, das Quellgebiet des
nordischen Stromes ist diesseits der Alpen zu suchen1.“ Diese Mei-
nung ist nicht völlig neu. Belgisch-französische Gelehrte haben
bereits ähnliche Behauptungen für das Auftreten der Renaissance-
bewegung im französischen und niederländisch-burgundischen Kul-
turkreis aufgestellt2, und insbesondere die Bedeutung der „Brüder
vom gemeinsamen Leben“ und ihrer Schulen für die mehr oder
weniger selbständige Entwicklung bzw. Vorbereitung des nordi-
schen Humanismus ist eine vielerörterte Frage3. Hermelink
glaubte — auch hier wieder viel weitergehend als Frühere — die Ent-
stehung des gesamten deutschen Humanismus aus einer „kirch-
lichen Laienkultur“ in dem geistig selbständig gewordenen Bürger-
tum der Städte, an Fürstenhöfen und Adelssitzen, bei den Laien-
brüdern der Bettelorden und in den Frauenklöstern ableiten zu
können. „Der entscheidende Anlaß und die tiefere Ursache der
1 Relig. Reformbestrebungen p. 5/6. — Wesentlich vorsichtiger formu-
liert im Handb. d. K. G. III, § 7, 2 u. 6. Doch heißt es auch dort, daß in den
Schulkämpfen der beiden Wege „die Keime der neuen Zeit reif werden“.
2 Vgl. L. Courajod, Legons professees ä l’ecole du Louvre, t. II: Ori-
gines de la renaissance. Paris 1901. — Fierens Gevaert, La renaiss. septen-
trionale, Brüssel 1905. — A. Roersch, L’humanisme beige ä l’epoque de la
renaissance, p. 5, 9, 34 (1910) und in der Revue generale, Bruxelles 1906
(letzterer Artikel mir unzugänglich).
3 Die Literatur s. bei Mestwerdt, 1. c. 78ff., 139.
Gerhard Ritter:
Am radikalsten und gewagtesten hat Hermelink diese Konstruk-
tionen ausgebaut. Während die älteren Forscher in der Hauptsache
nur die religiösen Reformbestrebungen der deutschen Humanisten
und der neuthomistischen bzw. neuskotistischen Scholastiker im
Auge hatten und auf die immerhin unleugbare Ideenverwandtschaft
hinwiesen, die sich zwischen den beiden Gruppen aus der Gemein-
samkeit des Zieles: der Neubelebung der verfallenden kirchlichen
Kultur, ergab, suchte Hermelink darüber hinaus geradezu „das
Entstehen der eigentlich humanistischen Bewegung“ (nicht nur
auf religiösem Gebiete) in Deutschland „aus den Reformations-
bestrebungen der Kirche an Haupt und Gliedern“ zu erklären.
Der deutsche Humanismus soll danach nicht etwa einen Ableger
der italienischen Renaissance darstellen, sondern „italienische Re-
naissance und nordischer Humanismus laufen nebeneinander her,
als zwei parallele weitverzweigte Stromsysteme.“ Gewisse „An-
regungen und Förderungen“, die der deutsche Humanismus aus
Italien empfangen habe, werden nicht geleugnet. „Aber es waren
nur Zuflüsse; der Ursprung der Bewegung, das Quellgebiet des
nordischen Stromes ist diesseits der Alpen zu suchen1.“ Diese Mei-
nung ist nicht völlig neu. Belgisch-französische Gelehrte haben
bereits ähnliche Behauptungen für das Auftreten der Renaissance-
bewegung im französischen und niederländisch-burgundischen Kul-
turkreis aufgestellt2, und insbesondere die Bedeutung der „Brüder
vom gemeinsamen Leben“ und ihrer Schulen für die mehr oder
weniger selbständige Entwicklung bzw. Vorbereitung des nordi-
schen Humanismus ist eine vielerörterte Frage3. Hermelink
glaubte — auch hier wieder viel weitergehend als Frühere — die Ent-
stehung des gesamten deutschen Humanismus aus einer „kirch-
lichen Laienkultur“ in dem geistig selbständig gewordenen Bürger-
tum der Städte, an Fürstenhöfen und Adelssitzen, bei den Laien-
brüdern der Bettelorden und in den Frauenklöstern ableiten zu
können. „Der entscheidende Anlaß und die tiefere Ursache der
1 Relig. Reformbestrebungen p. 5/6. — Wesentlich vorsichtiger formu-
liert im Handb. d. K. G. III, § 7, 2 u. 6. Doch heißt es auch dort, daß in den
Schulkämpfen der beiden Wege „die Keime der neuen Zeit reif werden“.
2 Vgl. L. Courajod, Legons professees ä l’ecole du Louvre, t. II: Ori-
gines de la renaissance. Paris 1901. — Fierens Gevaert, La renaiss. septen-
trionale, Brüssel 1905. — A. Roersch, L’humanisme beige ä l’epoque de la
renaissance, p. 5, 9, 34 (1910) und in der Revue generale, Bruxelles 1906
(letzterer Artikel mir unzugänglich).
3 Die Literatur s. bei Mestwerdt, 1. c. 78ff., 139.