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Gerhard Ritter:
Aufgaben keineswegs. Diese Selbstbeschränkung kann ebensogut
als ein Zeichen der Schwäche wie der Reformgesinnung aufgefaßt
werden. Was ist es anders, als Schwäche der schöpferischen Fähig-
keiten, wenn die Theologen der via antiqua immer nur Kommen-
tierungen, Blütenlesen und Verteidigungen ihrer großen Vorbilder,
des Albert, Thomas oder Skotus zustande brachten ? Auch der
bedeutendste unter den Autoren, die man zur Restaurationsbewe-
gung der antiqui im weiteren Sinne rechnen kann, der Karthäuser
Dionysius Rickel, dessen Produktion vor allem durch ihren Um-
fang in Erstaunen setzt (etwa 150 Bände handschriftlich, 40 Quart-
bände im Druck), kam doch über eine neutrale Zusammenstellung
der Ansichten fast aller größeren Autoren des 13. Jahrhunderts
nicht hinaus1.
Was die neue Frömmigkeit der deutschen Laienwelt von der
Theologie verlangte und was bald darauf ein religiöser Genius mit
ursprünglicher Kraft sich selbst und der Welt eroberte, war nicht
Erneuerung der alten Formen des theologischen Denkens, sondern
wo nicht ihre Zerschlagung, so doch ihre Erfüllung mit einem neuen
Geiste, der sie jeden Augenblick zu sprengen drohte. Ein solcher
Geist lebte — fast ganz außerhalb der Universitäten — in der
mystischen Bewegung, in der Laienfrömmigkeit der „Brüder vom
gemeinsamen Leben“ (devotio modernd), in dem Geiste des Nikolaus
Cusanus und seiner Verehrer; etwas von dieser Gesinnung klang
auch wider in den Bußrufen und kritischen Mahnungen all der
zahlreichen, auf Seelsorge und praktische Kirchenreform bedachten
Theologen, die seit dem Ende der Konzilsepoche immer stärker
hervortreten: von den Gelehrten des streng asketischen Kartäuser-
ordens2 bis zu den ernsthaften, kirchlich gesonnenen Humanisten
1 Das öfter nachgesprochene Urteil Hermelinks, auf seiten der via
antiqua hätten die besseren Köpfe gestanden, scheint mir — wenigstens was
die theoretischen Teile der Theologie angeht — bisher nicht hinreichend
begründet. Janssen I, cap. 4 zählt allerdings (mit besonderer Liebe) eine
Reihe von praktisch-seelsorgerlich gerichteten und auf Sittenreform des Klerus
bedachten Theologen auf, die überwiegend der via antiqua irgendwie nahe-
stehen. Wie wenig indessen hervorragende Leistungen auch auf diesem Ge-
biete der via antiqua allein eigentümlich sind, zeigen (neben der älteren Heidel-
berger praktisch-erbaulichen Literatur, s. o.!) solche Erscheinungen wie die
des Gabriel Biel oder Johann Wessel Gansfort. S. darüber sogleich das fol-
gende im Text!
2 Die Anziehungskraft dieses Ordens auf gelehrte Köpfe des 15. Jahr-
hunderts ist ebensogroß wie seine Bedeutung für die kirchenreformatorische
Gerhard Ritter:
Aufgaben keineswegs. Diese Selbstbeschränkung kann ebensogut
als ein Zeichen der Schwäche wie der Reformgesinnung aufgefaßt
werden. Was ist es anders, als Schwäche der schöpferischen Fähig-
keiten, wenn die Theologen der via antiqua immer nur Kommen-
tierungen, Blütenlesen und Verteidigungen ihrer großen Vorbilder,
des Albert, Thomas oder Skotus zustande brachten ? Auch der
bedeutendste unter den Autoren, die man zur Restaurationsbewe-
gung der antiqui im weiteren Sinne rechnen kann, der Karthäuser
Dionysius Rickel, dessen Produktion vor allem durch ihren Um-
fang in Erstaunen setzt (etwa 150 Bände handschriftlich, 40 Quart-
bände im Druck), kam doch über eine neutrale Zusammenstellung
der Ansichten fast aller größeren Autoren des 13. Jahrhunderts
nicht hinaus1.
Was die neue Frömmigkeit der deutschen Laienwelt von der
Theologie verlangte und was bald darauf ein religiöser Genius mit
ursprünglicher Kraft sich selbst und der Welt eroberte, war nicht
Erneuerung der alten Formen des theologischen Denkens, sondern
wo nicht ihre Zerschlagung, so doch ihre Erfüllung mit einem neuen
Geiste, der sie jeden Augenblick zu sprengen drohte. Ein solcher
Geist lebte — fast ganz außerhalb der Universitäten — in der
mystischen Bewegung, in der Laienfrömmigkeit der „Brüder vom
gemeinsamen Leben“ (devotio modernd), in dem Geiste des Nikolaus
Cusanus und seiner Verehrer; etwas von dieser Gesinnung klang
auch wider in den Bußrufen und kritischen Mahnungen all der
zahlreichen, auf Seelsorge und praktische Kirchenreform bedachten
Theologen, die seit dem Ende der Konzilsepoche immer stärker
hervortreten: von den Gelehrten des streng asketischen Kartäuser-
ordens2 bis zu den ernsthaften, kirchlich gesonnenen Humanisten
1 Das öfter nachgesprochene Urteil Hermelinks, auf seiten der via
antiqua hätten die besseren Köpfe gestanden, scheint mir — wenigstens was
die theoretischen Teile der Theologie angeht — bisher nicht hinreichend
begründet. Janssen I, cap. 4 zählt allerdings (mit besonderer Liebe) eine
Reihe von praktisch-seelsorgerlich gerichteten und auf Sittenreform des Klerus
bedachten Theologen auf, die überwiegend der via antiqua irgendwie nahe-
stehen. Wie wenig indessen hervorragende Leistungen auch auf diesem Ge-
biete der via antiqua allein eigentümlich sind, zeigen (neben der älteren Heidel-
berger praktisch-erbaulichen Literatur, s. o.!) solche Erscheinungen wie die
des Gabriel Biel oder Johann Wessel Gansfort. S. darüber sogleich das fol-
gende im Text!
2 Die Anziehungskraft dieses Ordens auf gelehrte Köpfe des 15. Jahr-
hunderts ist ebensogroß wie seine Bedeutung für die kirchenreformatorische