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Gerhard Ritter:
mungen der vorreformatorischen Epoche mehr oder weniger gemein-
sam das Verlangen, die Religion persönlicher zu gestalten, den
Apparat der kirchlichen Heilsvermittlung wo nicht auszuschalten,
so doch hinter die eigentlich geistigen Beziehungen zwischen dem
Einzelnen und seinem Gotte zurückzuschieben. Darüber hinaus
bestehen die größten Verschiedenheiten. Während die Mystik in
allen möglichen Formen die Loslösung des Einzelich von seiner
irdischen Gebundenheit und seine Versenkung in das unendliche
Wesen des Schöpfers als rein geistigen Akt auffaßt, dem die see-
lische Haltung der Stille, der Gottinnigkeit entspricht, legt die
devotio moderna den Hauptnachdruck auf eine schlichte, werk-
tätige Frömmigkeit, betont die Gefühlswerte und die moralischen
Forderungen der Religion an Stelle der im Mittelpunkt des kirch-
lichen Systems stehenden dogmatischen Vorstellungen über das
Erlösungswerk. Der Humanismus endlich, in sich selber, als reli-
giöse Bewegung betrachtet, keine einheitliche Größe, sondern von
andern Strömungen aufs stärkste mitbestimmt und darum beson-
ders vielfarbig schillernd, besitzt doch als eigenes Kennzeichen eine
gewisse Neigung zu aufgeklärter Revision der kirchlichen Über-
lieferungen, zur Vereinfachung des traditionellen Heilsapparates
durch kritische Anwendung der Maßstäbe des Urchristentums, die
er aus originaler Kenntnis der ältesten Kirchenväter und der Bibel
in ihren Urtexten zu erschließen hofft; damit verbindet sich —
nicht ohne Einfluß italienischer und spätantiker Ideen — eine
Neigung, die dogmatischen Bestimmungen der Religion leicht zu
nehmen, vorzugsweise ihr moralisches Element zu betonen, und
somit die Stimmung eines universalen Theismus, der die allgemeine
gottgläubige Menschheit an Stelle der in viele Konfessionen gespalte-
nen kultischen Gemeinschaften setzen möchte. Die Frage nach dem
gegenseitigen Verhältnis dieser verschiedenen Reformideen und nach
ihrer geschichtlichen Bedeutung — ob und wieweit sie als Anfänge
des modernen religiösen Denkens, wieweit als Vorstufen der Refor-
mation, wieweit endlich als Teilerscheinungen einer innerkatholi-
schen, der Reformation entgegengesetzten Reformbewegung zu be-
trachten seien — gehört zu den wichtigsten geistesgeschichtlichen
Problemen der Epoche. Unsere Auffassung des Verhältnisses von Re-
naissance und Reformation, von mittelalterlichen und modernen
Elementen dieser Übergangskultur wird stark durch ihre Beantwor-
tungbestimmt. Indem Troeltsch — in Fortführung von Anregun-
gen Diltheys — die religiösen Ideen des deutschen Humanismus
Gerhard Ritter:
mungen der vorreformatorischen Epoche mehr oder weniger gemein-
sam das Verlangen, die Religion persönlicher zu gestalten, den
Apparat der kirchlichen Heilsvermittlung wo nicht auszuschalten,
so doch hinter die eigentlich geistigen Beziehungen zwischen dem
Einzelnen und seinem Gotte zurückzuschieben. Darüber hinaus
bestehen die größten Verschiedenheiten. Während die Mystik in
allen möglichen Formen die Loslösung des Einzelich von seiner
irdischen Gebundenheit und seine Versenkung in das unendliche
Wesen des Schöpfers als rein geistigen Akt auffaßt, dem die see-
lische Haltung der Stille, der Gottinnigkeit entspricht, legt die
devotio moderna den Hauptnachdruck auf eine schlichte, werk-
tätige Frömmigkeit, betont die Gefühlswerte und die moralischen
Forderungen der Religion an Stelle der im Mittelpunkt des kirch-
lichen Systems stehenden dogmatischen Vorstellungen über das
Erlösungswerk. Der Humanismus endlich, in sich selber, als reli-
giöse Bewegung betrachtet, keine einheitliche Größe, sondern von
andern Strömungen aufs stärkste mitbestimmt und darum beson-
ders vielfarbig schillernd, besitzt doch als eigenes Kennzeichen eine
gewisse Neigung zu aufgeklärter Revision der kirchlichen Über-
lieferungen, zur Vereinfachung des traditionellen Heilsapparates
durch kritische Anwendung der Maßstäbe des Urchristentums, die
er aus originaler Kenntnis der ältesten Kirchenväter und der Bibel
in ihren Urtexten zu erschließen hofft; damit verbindet sich —
nicht ohne Einfluß italienischer und spätantiker Ideen — eine
Neigung, die dogmatischen Bestimmungen der Religion leicht zu
nehmen, vorzugsweise ihr moralisches Element zu betonen, und
somit die Stimmung eines universalen Theismus, der die allgemeine
gottgläubige Menschheit an Stelle der in viele Konfessionen gespalte-
nen kultischen Gemeinschaften setzen möchte. Die Frage nach dem
gegenseitigen Verhältnis dieser verschiedenen Reformideen und nach
ihrer geschichtlichen Bedeutung — ob und wieweit sie als Anfänge
des modernen religiösen Denkens, wieweit als Vorstufen der Refor-
mation, wieweit endlich als Teilerscheinungen einer innerkatholi-
schen, der Reformation entgegengesetzten Reformbewegung zu be-
trachten seien — gehört zu den wichtigsten geistesgeschichtlichen
Problemen der Epoche. Unsere Auffassung des Verhältnisses von Re-
naissance und Reformation, von mittelalterlichen und modernen
Elementen dieser Übergangskultur wird stark durch ihre Beantwor-
tungbestimmt. Indem Troeltsch — in Fortführung von Anregun-
gen Diltheys — die religiösen Ideen des deutschen Humanismus