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Gerhard Ritter:
nicht eingehend untersucht worden1. In jedem Falle war die so
viel günstigere Entwicklung des Neuthomismus in Spanien unge-
mein charakteristisch für die tiefe Verschiedenheit des geistigen
Lebens dort und in Deutschland. Dort, im Heimatlande des hl. Do-
minikus und der scholastischen Methode, bedeutete die Erneu-
erung der Ordenstheologie der Dominikaner nur den angemessen-
sten wissenschaftlichen Ausdruck jener Restauration mittelalter-
licher Frömmigkeit, die mit den Reformen der spanischen Kirche
durch Kardinal Ximenez eingeleitet wurde. Dort lebte noch die
ganze Glut lebendiger Religiosität hinter den Formeln des schola-
stischen Lehrgebäudes; in Deutschland strebten gerade die Frömm-
sten mit der stärksten Leidenschaft aus dem Bannkreis dieser For-
meln heraus. Das religiöse Leben begann hier aus der scholasti-
schen Theologie zu weichen; so mußte sie unausbleiblich ver-
dorren. Die künstliche Erneuerung der hochscholastischen Sy-
steme blieb hier eine Angelegenheit von Professoren; in Spanien
war sie ein mächtiges Hilfsmittel zur Erhaltung der überlieferten
kirchlichen Verhältnisse, obschon (oder gerade weil ?) auch dort die
Verehrer der alten Meister nicht imstande waren, deren Geistes-
arbeit selbständig fortzubilden. So wurde Deutschland das Land
der Reformation, Spanien das der Jesuiten. Wie für die deutsche
Theologie die Umbiegung des echten Thomismus ins Mystische, für
Italien der skeptisch-halbheidnische Averroismus charakteristisch
war, so für Spanien der geistige Konservatismus, der die Kanoni-
sierung des thomistischen Lehrgebäudes auf dem Trient er Konzil
durchsetzte. Erst von dort aus ist dann der verjüngte Thomismus
mit den Jesuiten wieder nach Deutschland eingewandert und hier
noch einmal eine geistige Macht erster Ordnung geworden.
* *
*
Wir stehen am Schluß. Unsere Betrachtung hat auf allen
Punkten zu der Erkenntnis geführt, daß die historische Bedeutung
der Schulstreitigkeiten des 15. Jahrhunderts zwischen via antiqua
und via moderna zum mindesten für Deutschland bisher überschätzt,
der Gegenstand dieser Kämpfe meist unrichtig beurteilt worden ist.
Verfolgt man im täglichen Leben der Heidelberger Universität -
die das Nebeneinander der Schulen am kunstvollsten organisiert
1 Was Prantl über die logische Literatur Spaniens im 15. Jahrhundert
berichtet, läßt einen geringeren Grad von Spannung zwischen den beiden
Schulrichtungen vermuten, als er anderswo bestand.
Gerhard Ritter:
nicht eingehend untersucht worden1. In jedem Falle war die so
viel günstigere Entwicklung des Neuthomismus in Spanien unge-
mein charakteristisch für die tiefe Verschiedenheit des geistigen
Lebens dort und in Deutschland. Dort, im Heimatlande des hl. Do-
minikus und der scholastischen Methode, bedeutete die Erneu-
erung der Ordenstheologie der Dominikaner nur den angemessen-
sten wissenschaftlichen Ausdruck jener Restauration mittelalter-
licher Frömmigkeit, die mit den Reformen der spanischen Kirche
durch Kardinal Ximenez eingeleitet wurde. Dort lebte noch die
ganze Glut lebendiger Religiosität hinter den Formeln des schola-
stischen Lehrgebäudes; in Deutschland strebten gerade die Frömm-
sten mit der stärksten Leidenschaft aus dem Bannkreis dieser For-
meln heraus. Das religiöse Leben begann hier aus der scholasti-
schen Theologie zu weichen; so mußte sie unausbleiblich ver-
dorren. Die künstliche Erneuerung der hochscholastischen Sy-
steme blieb hier eine Angelegenheit von Professoren; in Spanien
war sie ein mächtiges Hilfsmittel zur Erhaltung der überlieferten
kirchlichen Verhältnisse, obschon (oder gerade weil ?) auch dort die
Verehrer der alten Meister nicht imstande waren, deren Geistes-
arbeit selbständig fortzubilden. So wurde Deutschland das Land
der Reformation, Spanien das der Jesuiten. Wie für die deutsche
Theologie die Umbiegung des echten Thomismus ins Mystische, für
Italien der skeptisch-halbheidnische Averroismus charakteristisch
war, so für Spanien der geistige Konservatismus, der die Kanoni-
sierung des thomistischen Lehrgebäudes auf dem Trient er Konzil
durchsetzte. Erst von dort aus ist dann der verjüngte Thomismus
mit den Jesuiten wieder nach Deutschland eingewandert und hier
noch einmal eine geistige Macht erster Ordnung geworden.
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Wir stehen am Schluß. Unsere Betrachtung hat auf allen
Punkten zu der Erkenntnis geführt, daß die historische Bedeutung
der Schulstreitigkeiten des 15. Jahrhunderts zwischen via antiqua
und via moderna zum mindesten für Deutschland bisher überschätzt,
der Gegenstand dieser Kämpfe meist unrichtig beurteilt worden ist.
Verfolgt man im täglichen Leben der Heidelberger Universität -
die das Nebeneinander der Schulen am kunstvollsten organisiert
1 Was Prantl über die logische Literatur Spaniens im 15. Jahrhundert
berichtet, läßt einen geringeren Grad von Spannung zwischen den beiden
Schulrichtungen vermuten, als er anderswo bestand.