Einleitung.
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l.Kap. des 3.Buches desVitruv heißt es: Itemquadratadesignatio
in eo invenietur: Nam: Si a pedibus imis ad summum caput mensum
erit, eaque mensura relata fuerit ad manus pansas: Invenietur
eadem latitudo uti altitudo, quem ad modum areae quae sunt ad
normam quadratae. Ergo: Si ita natura composuit corpus hominis,
uti proportionibus membra ad summam figurationem ejus respon-
deant, cum causa constituisse videntur antiqui ut, etiam in operum
perfectionibus: singulorum membrorum, ad universam figurae
speciem, habeant commensus exactionem (Abb. 25). Warburgs An-
nahme, daß wir im Bundahisn einen Niederschlag derselben orien-
talischen Spekulation vor uns haben, deren gräcisiert-ästhetische
Formulierung Vitruv überliefert, ist unbestreitbar. Wie bei den
Arabern und noch bei der hl. Hildegard war ihr Gegenstand die Zu-
sammensetzung der Elemente des Alls und die Proportion seiner
Glieder und sie entsprang einem einheitlichen religiösen Denken,
von dem sich das naturphilosophische wie das ästhetische los-
gelöst haben.
Einen Niederschlag davon sehen wir selbst in jenen Zeichnungen
mittelalterlicher Codices; denn das Besondere ist, daß die Zeich-
nung des Cod. 12600— ebenso wie die der Luccheser Handschrift
der Werke der Hildegard von Bingen1 — den Menschen mit aus-
gestreckten Armen in einem Viereck stehend zeigt, daß also hier
das Mikrokosmos-Männchen fast genau nach jenem Proportions-
schema gebildet ist, das der Bundahisn und Vitruv als das durch
die Harmonie des Kosmos notwendig sich ergebende bezeichnen.
Der Cod.2357 zeigt ihn dagegen im Kreis mit hängenden Armen.
Das erinnert daran, daß der oben zitierten Vitruvstelle folgende
Satz vorausgeht: Si homo conlocatus fuerit supinus, manibus et
pedibus pansis; circinique conlocatum centrum in umbilico ejus:
Circumagendo rotundationem, utrarumque manuum et pedum
digiti linea tangentur (Abb. 25).
Neben jener großen religiösen Spekulation über Stoff und
Maße des Mikrokosmos aber, deren Kreis unsere Zeichnungen an-
gehören, äußert sich in ihnen auch das rein ästhetisch spekulierende
Denken. In seiner Studie über „Die Entwicklung der Proportions-
lehre als Abbild der Stilentwicklung“2 hat Panofsky auf ein Kon-
struktionsschema hingewiesen, das in der byzantinischen Kunst
1 Charles Sieger, Studies in the history and method of Science I. (Ox-
ford 1917) T. VII. und VIII.
2 Monatshefte für Kunstwissenschaft 1921, S. 188—219, spez. S. 202ff.
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l.Kap. des 3.Buches desVitruv heißt es: Itemquadratadesignatio
in eo invenietur: Nam: Si a pedibus imis ad summum caput mensum
erit, eaque mensura relata fuerit ad manus pansas: Invenietur
eadem latitudo uti altitudo, quem ad modum areae quae sunt ad
normam quadratae. Ergo: Si ita natura composuit corpus hominis,
uti proportionibus membra ad summam figurationem ejus respon-
deant, cum causa constituisse videntur antiqui ut, etiam in operum
perfectionibus: singulorum membrorum, ad universam figurae
speciem, habeant commensus exactionem (Abb. 25). Warburgs An-
nahme, daß wir im Bundahisn einen Niederschlag derselben orien-
talischen Spekulation vor uns haben, deren gräcisiert-ästhetische
Formulierung Vitruv überliefert, ist unbestreitbar. Wie bei den
Arabern und noch bei der hl. Hildegard war ihr Gegenstand die Zu-
sammensetzung der Elemente des Alls und die Proportion seiner
Glieder und sie entsprang einem einheitlichen religiösen Denken,
von dem sich das naturphilosophische wie das ästhetische los-
gelöst haben.
Einen Niederschlag davon sehen wir selbst in jenen Zeichnungen
mittelalterlicher Codices; denn das Besondere ist, daß die Zeich-
nung des Cod. 12600— ebenso wie die der Luccheser Handschrift
der Werke der Hildegard von Bingen1 — den Menschen mit aus-
gestreckten Armen in einem Viereck stehend zeigt, daß also hier
das Mikrokosmos-Männchen fast genau nach jenem Proportions-
schema gebildet ist, das der Bundahisn und Vitruv als das durch
die Harmonie des Kosmos notwendig sich ergebende bezeichnen.
Der Cod.2357 zeigt ihn dagegen im Kreis mit hängenden Armen.
Das erinnert daran, daß der oben zitierten Vitruvstelle folgende
Satz vorausgeht: Si homo conlocatus fuerit supinus, manibus et
pedibus pansis; circinique conlocatum centrum in umbilico ejus:
Circumagendo rotundationem, utrarumque manuum et pedum
digiti linea tangentur (Abb. 25).
Neben jener großen religiösen Spekulation über Stoff und
Maße des Mikrokosmos aber, deren Kreis unsere Zeichnungen an-
gehören, äußert sich in ihnen auch das rein ästhetisch spekulierende
Denken. In seiner Studie über „Die Entwicklung der Proportions-
lehre als Abbild der Stilentwicklung“2 hat Panofsky auf ein Kon-
struktionsschema hingewiesen, das in der byzantinischen Kunst
1 Charles Sieger, Studies in the history and method of Science I. (Ox-
ford 1917) T. VII. und VIII.
2 Monatshefte für Kunstwissenschaft 1921, S. 188—219, spez. S. 202ff.