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Mitteis, Heinrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1926/27, 3. Abhandlung): Politische Prozesse des früheren Mittelalters in Deutschland und Frankreich — Heidelberg, 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.38925#0116
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116

Heinrich Mitteis:

diese bewegenden Ereignisse wäre es vielleicht nicht zum Erlaß
der Magna Charta gekommen, nicht zur Ausbildung jener spezi-
fischen insularen Mentalität der Engländer, die Verfassungseinrich-
tungen geschaffen hat, die auf dem Kontinent schlechterdings nicht
reproduziert werden können.
Sofort taucht nun natürlich die Frage auf, welche Faktoren
diese gewaltigen Unterschiede der Wirkung erzeugt oder wenigstens
beeinflußt haben. Wie kam es, daß unter fast gleichen Bedingungen
die beiden benachbarten Länder einen so verschiedenen Weg ein-
geschlagen haben ?
Sicher wäre es verfehlt, nach einer einzigen, alles erklärenden
Ursache suchen zu wollen. Sicher haben eine ganze Reihe von
Momenten zusammengewirkt, darunter auch völlig irrationale,
jeder „Erklärung“ spottende wie das persönliche Lebensschicksal
der Herrscher, die Vitalität der Dynastien. Das Feld dieser Kom-
ponenten abzugrenzen ist Sache des Historikers. Das Haupt-
interesse des Juristen wird sich der Frage zuwenden, ob denn nicht
auch rechtliche Elemente bei der Gestaltung der Ereignisse im
Spiele waren.
Und hier pflegt die deutsche Rechtsgeschichte seit Ficicer1
sich eines Satzes zu erinnern2, den der Sachsenspiegel an zwei
Stellen erwähnt, des Satzes nämlich, daß der König ein heim-
gefallenes Fahnlehn nicht einbehalten dürfe, sondern es binnen
Jahr und Tag wieder ausgeben mußte. Man spricht hier bezeich-
nenderweise von einem lehnrechtlichen „Leihezwang“3. Es wird
regelmäßig unterstellt, daß dieser Rechtssatz schon zur Zeit Bar-
barossas gegolten und dieser folglich unter rechtlichem Zwange
gehandelt habe, wenn er mit Sachsen und Bayern so verfuhr, wie
es oben dargestellt wurde.
In Frankreich scheint ein derartiger Rechtssatz nicht oder
wenigstens nicht in dem generellen Umfange4 bestanden zu haben
wie in Deutschland, höchstens nahe Anverwandte des Verurteilten
1 Entstehungszeit des Sachsenspiegels (1859), S. 131 ff.
2 Für alle Fehr, Deutsche Rechtsgeschichte2, S. 97.
3 In einem andern Sinne spielt der Leihezwang in der späteren deut-
schen Agrargeschichte eine Rolle. Vgl. Brunner, Der Leihezwang in der
dtsch. Agrargeschichte (Berliner Rektoratsrede, 1897). Das führende Lehr-
buch Schröders kennt merkwürdigerweise den Ausdruck L. nur in der letz-
teren Bedeutung (vgl. S. 833ff.).
4 S. oben S.97.
 
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