I. Prolegomena.
1. Der Bestand der Überlieferung Weselscher Schriften.
Die Gestalt des Erfurter Professors und späteren Mainzer Dom-
pfarrers Johann von Wesel, der im Februar 1479 von einem Ketzer-
gericht verurteilt und zum Widerruf gezwungen wurde, spielt inner-
halb der deutschen Spätscholastik eine durchaus singuläre Rolle.
Daß ein auf deutschen Hochschulen erzogener und (zeitweise) als
Lehrer tätiger deutscher Theologe zu ausgesprochen revolutionären
Meinungen gelangt, ist innerhalb des 15. Jahrhunderts etwas ganz
Unerhörtes. Zumal in der zweiten Hälfte dieser Epoche, in der die
Schule in ihrem Bestreben, die von den Stürmen des Schismas,
der Konzilien und der hussitischen Ketzereien arg mitgenommene
Kirche auf den alten Grundlagen bewährter Tradition wieder-
aufzubauen, zu ausgesprochen romantisch-restaurativen Tendenzen
gelangt1. Man glaubt es denn auch dem Verhalten der Heidelberger
Professoren, die über ihren Zunft- und Standesgenossen zu Gericht
sitzen mußten, deutlich anzumerken, wie peinlich und unerhört
ihnen selber der Vorgang erschien, und einer der überlieferten
Berichte über den Prozeßverlauf macht aus seiner Empörung über
die rücksichtslose Art, mit der die Inquisition — geleitet von
Kölner Bettelmönchen — mit einem ,,so bedeutenden Gelehrten“
(tanto viro) umgesprungen sei, kein Hehl.
Einer so auffallenden Erscheinung gegenüber wird man immer
zuerst zu fragen haben, ob es sich um einen bloßen Sonderling,
eine geschichtliche Kuriosität ohne tieferes Interesse handelt, oder
aber um den zwar vereinzelten, aber dennoch als Symptom bedeut-
samen Ausdruck tiefliegender, sonst nicht ans Licht gelangender
geistiger Kräfte — um den Träger zukunftsvoller, wenn auch noch
nicht zu voller geschichtlicher Wirksamkeit herangereifter moderner
Ideen. Die Frage zu beantworten ist in diesem Falle um so wichtiger,
als bekanntlich Johann von Wesel von der Forschung in engsten
Zusammenhang gebracht ist mit der Vorgeschichte der Reformation.
1 Vgl. darüber meine „Studien zur Spätscholastik“ II (1922) und neuer-
dings: den im Vorwort zitierten Aufsatz.
1. Der Bestand der Überlieferung Weselscher Schriften.
Die Gestalt des Erfurter Professors und späteren Mainzer Dom-
pfarrers Johann von Wesel, der im Februar 1479 von einem Ketzer-
gericht verurteilt und zum Widerruf gezwungen wurde, spielt inner-
halb der deutschen Spätscholastik eine durchaus singuläre Rolle.
Daß ein auf deutschen Hochschulen erzogener und (zeitweise) als
Lehrer tätiger deutscher Theologe zu ausgesprochen revolutionären
Meinungen gelangt, ist innerhalb des 15. Jahrhunderts etwas ganz
Unerhörtes. Zumal in der zweiten Hälfte dieser Epoche, in der die
Schule in ihrem Bestreben, die von den Stürmen des Schismas,
der Konzilien und der hussitischen Ketzereien arg mitgenommene
Kirche auf den alten Grundlagen bewährter Tradition wieder-
aufzubauen, zu ausgesprochen romantisch-restaurativen Tendenzen
gelangt1. Man glaubt es denn auch dem Verhalten der Heidelberger
Professoren, die über ihren Zunft- und Standesgenossen zu Gericht
sitzen mußten, deutlich anzumerken, wie peinlich und unerhört
ihnen selber der Vorgang erschien, und einer der überlieferten
Berichte über den Prozeßverlauf macht aus seiner Empörung über
die rücksichtslose Art, mit der die Inquisition — geleitet von
Kölner Bettelmönchen — mit einem ,,so bedeutenden Gelehrten“
(tanto viro) umgesprungen sei, kein Hehl.
Einer so auffallenden Erscheinung gegenüber wird man immer
zuerst zu fragen haben, ob es sich um einen bloßen Sonderling,
eine geschichtliche Kuriosität ohne tieferes Interesse handelt, oder
aber um den zwar vereinzelten, aber dennoch als Symptom bedeut-
samen Ausdruck tiefliegender, sonst nicht ans Licht gelangender
geistiger Kräfte — um den Träger zukunftsvoller, wenn auch noch
nicht zu voller geschichtlicher Wirksamkeit herangereifter moderner
Ideen. Die Frage zu beantworten ist in diesem Falle um so wichtiger,
als bekanntlich Johann von Wesel von der Forschung in engsten
Zusammenhang gebracht ist mit der Vorgeschichte der Reformation.
1 Vgl. darüber meine „Studien zur Spätscholastik“ II (1922) und neuer-
dings: den im Vorwort zitierten Aufsatz.