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Gerhard Ritter:
Von allen Häresien, die das Inquisitionsgericht später fest-
stellte, fand der Glossator unseres Prozeßberichtes wirklich gra-
vierend nur eine: die Leugnung des ,,filioque“ im Meßkanon1.
Nun zeigt die Vergleichung des Sentenzenkommentars (I, 11 u. 29;
s. Textteil sub A 1) ganz deutlich, daß Johann von Wesel nicht
nur ursprünglich in dieser Frage durchaus kirchlich korrekt gelehrt
hat, sondern daß er sich des Ketzerischen seiner späteren Meinung
voll bewußt gewesen sein muß: er selber zitiert dort aus den Dekre-
talen den Konzilsbeschluß von Lyon, der die Leugnung des ,,/iL’o-
queu (und zwar genau in der späteren Weselschen Formulierung)
verdammt! Es war also eine bewußte Keckheit, auch in dieser
Frage sich über Konzilsbeschlüsse und geltendes kirchliches Recht
hinwegzusetzen. Er berief sich darauf, daß die hl. Schrift von dem
,,filioque“ nichts wisse; vielleicht (man möchte sagen: wahrschein-
lich) hat ihm dafür der Lombarde als Quelle gedient, der eben
in I 11 u. a. darlegt, daß die griechische Kirche dasselbe Argument
gebraucht und sogar eine Reihe von Stellen der Evangelien, ins-
besondere bei Johannes, für sich hat2.
Deutlicher noch klärt sich der Ursprung jener Gedanken auf,
die ihn später zur Leugnung der Erbsünde (im Ketzerverhör)
führten. Was Johann von Wesel im Sentenzenkommentar darüber
lehrt (A 2), läßt sich ohne weiteres als die in der Spätscholastik
-— insbesondere okkamistischer Richtung — weitverbreitete nega-
tive Auffassung der Erbsünde erkennen: nicht concupiscentia (von
der gar nicht die Rede ist), nicht eine positive, von Adam her ver-
erbte Refleckung und Verderbnis der menschlichen Natur soll ihr
Wesen sein, sondern die rein negative Restimmung der carentia
iusticie originalis. Zwar wird (ebenfalls im Sinne der Okkamisten)
ein fomes peccati anerkannt; dabei schließt sich Wesel, diesmal unter
ausdrücklicher Rerufung auf die moderni im Gegensatz zu den
antiqui, der okkamistischen Meinung an, daß es sich um einen ver-
erblichen Zustand des körperlichen, nicht des seelischen Lebens
handle, der ein gewisses Übergewicht sinnlicher Neigungen über
das ethische Wollen zur Folge hat. Aber dadurch wird die voll-
1 Duplessis d’Argentre, Coli, iudic. de novis erroribus (1728) I, 2,
p. 298. Die Leugnung: Paradoxa, ibid. 292; Verhör Punkt 7: ibid. 294, 296.
Ebenso bei Clemen, DZ GW, N. F. 2 (1897/98), S.167,169. — Überdas „filioque“
im sog. Nicäno-Constantinopolitanum des abendländischen Meßkanons vgl.
Seeberg, Dogmengesch. II, 151 ff.; III, 59ff. und Loofs Symbolik I, 48 ff., 50 ff.
2 Vgl. dazu besonders das zweite Verhör, d’Argentre, 1. c., 296, Spalte 2.
Gerhard Ritter:
Von allen Häresien, die das Inquisitionsgericht später fest-
stellte, fand der Glossator unseres Prozeßberichtes wirklich gra-
vierend nur eine: die Leugnung des ,,filioque“ im Meßkanon1.
Nun zeigt die Vergleichung des Sentenzenkommentars (I, 11 u. 29;
s. Textteil sub A 1) ganz deutlich, daß Johann von Wesel nicht
nur ursprünglich in dieser Frage durchaus kirchlich korrekt gelehrt
hat, sondern daß er sich des Ketzerischen seiner späteren Meinung
voll bewußt gewesen sein muß: er selber zitiert dort aus den Dekre-
talen den Konzilsbeschluß von Lyon, der die Leugnung des ,,/iL’o-
queu (und zwar genau in der späteren Weselschen Formulierung)
verdammt! Es war also eine bewußte Keckheit, auch in dieser
Frage sich über Konzilsbeschlüsse und geltendes kirchliches Recht
hinwegzusetzen. Er berief sich darauf, daß die hl. Schrift von dem
,,filioque“ nichts wisse; vielleicht (man möchte sagen: wahrschein-
lich) hat ihm dafür der Lombarde als Quelle gedient, der eben
in I 11 u. a. darlegt, daß die griechische Kirche dasselbe Argument
gebraucht und sogar eine Reihe von Stellen der Evangelien, ins-
besondere bei Johannes, für sich hat2.
Deutlicher noch klärt sich der Ursprung jener Gedanken auf,
die ihn später zur Leugnung der Erbsünde (im Ketzerverhör)
führten. Was Johann von Wesel im Sentenzenkommentar darüber
lehrt (A 2), läßt sich ohne weiteres als die in der Spätscholastik
-— insbesondere okkamistischer Richtung — weitverbreitete nega-
tive Auffassung der Erbsünde erkennen: nicht concupiscentia (von
der gar nicht die Rede ist), nicht eine positive, von Adam her ver-
erbte Refleckung und Verderbnis der menschlichen Natur soll ihr
Wesen sein, sondern die rein negative Restimmung der carentia
iusticie originalis. Zwar wird (ebenfalls im Sinne der Okkamisten)
ein fomes peccati anerkannt; dabei schließt sich Wesel, diesmal unter
ausdrücklicher Rerufung auf die moderni im Gegensatz zu den
antiqui, der okkamistischen Meinung an, daß es sich um einen ver-
erblichen Zustand des körperlichen, nicht des seelischen Lebens
handle, der ein gewisses Übergewicht sinnlicher Neigungen über
das ethische Wollen zur Folge hat. Aber dadurch wird die voll-
1 Duplessis d’Argentre, Coli, iudic. de novis erroribus (1728) I, 2,
p. 298. Die Leugnung: Paradoxa, ibid. 292; Verhör Punkt 7: ibid. 294, 296.
Ebenso bei Clemen, DZ GW, N. F. 2 (1897/98), S.167,169. — Überdas „filioque“
im sog. Nicäno-Constantinopolitanum des abendländischen Meßkanons vgl.
Seeberg, Dogmengesch. II, 151 ff.; III, 59ff. und Loofs Symbolik I, 48 ff., 50 ff.
2 Vgl. dazu besonders das zweite Verhör, d’Argentre, 1. c., 296, Spalte 2.