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Ritter, Gerhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1926/27, 5. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 3: Neue Quellenstücke zur Theologie des Johann von Wesel — Heidelberg, 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.38927#0016
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16

Gerhard Ritter:

Was Goch und Wessel Gansfort betrieben, war ein Kampf
gegen die Erstarrung der Kirche zu einer Rechtsanstalt, für ihre
Neubeseelung als religiöse Liebes- und Geistesgemeinschaft; an die
Stelle äußerlichen Gehorsams gegen juristisch verbindliche Gesetze
und Vorschriften wünschten sie überall freies Wirken des Geistes,
freiwillige Tat aus frommer Gesinnung, zu setzen. Von diesen ihren
zentralen Ideen findet man bei Johann von Wesel nichts. Auch in
den Schriften nicht, die nunmehr deutlicher als die bisher betrach-
teten seinen Übergang zur Kritik des kirchlichen Herkommens
erkennen lassen. Trotz seiner Angriffe auf den überlieferten
Kirchenbegriff macht er sich von dem halbjuristischen Denken der
spätmittelalterlichen Theologie niemals wirklich los: schon daß er
mit so großer Vorliebe die kanonischen Rechtsbücher zitiert (gele-
gentlich auch unbedenklich als gültige Autorität) und aus ihnen
(nächst Petrus Lombardus) einen großen Teil seiner Augustin- und
sonstigen Väterzitate entnimmt, ist dafür bezeichnend. Im Grund
läuft alle seine Kritik darauf hinaus, an die Stelle der patristischen
Autoritäten, Konzilsbeschlüsse und Papstdekrete ein neues Gesetz-
buch (freilich von sehr viel beschränkterem Umfang) zu setzen: die
lex evangelica, d. h. die Vorschriften des Neuen Testaments, ins-
besondere (aber nicht ausschließlich) Christi in den Evangelien.
In fast allen Schriften wird diese Fundamentalfrage der Wesel-
schen Theologie erörtert: welche Autorität in geistlichen Dingen
bindend sei. Die Marienpredigt (B 6) stellt den Satz auf: die Ein-
richtung eines kirchlichen Festes müsse entweder sich gründen auf
die Autorität des Evangeliums, oder auf die Vernunft, oder auf
göttliche Offenbarung oder auf Bestätigung durch Wunderzeichen1.
Ohne solche Begründung dürfe die Kirche keine Institution treffen,
auch der Papst nicht; dessen Schlüsselgewalt —■ die sich übrigens
in keiner Weise von der allen Jüngern und damit der gesamten
Kirche übertragenen unterscheidet —• bezieht sich nur auf die rein
geistliche Funktion des sakramentalen Amtes. In dem ersten
Marientraktat (B 5) wird hierzu ergänzend ausgeführt, daß echte
Offenbarung sich immer durch Mirakel kenntlich mache — eine
Auffassung, die der Verfasser dann im Ablaßtraktat benützt, um
die Autorität der dogmatischen Entscheidungen des kanonischen
Rechts zu erschüttern: die Verfasser der canones, auch soweit es
sich um Päpste handelt, sind außerstande, die Echtheit ihrer In-
spiration durch Mirakel zu beweisen ( B 10).
1 Ähnlich in dem Briefe B 1, b, unter 1.
 
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