Studien zur Spätscholastik. III.
17
Die Autorität des kirchlichen Amtes als solche bedeutet unserm
Theologen demnach gar nichts; sie bedarf ihrerseits der Stütze
entweder durch mirakulose Sonderoffenbarung — oder durch die
Bibel oder die Vernunft. Auch für rein juristische Entscheidungen
gilt das: auch da steht über dem Papste und den kirchlichen Oberen
überhaupt das ius divinum und das ius naturaleh Wo diese wider-
sprechen, gilt das kirchliche Gebot oder Verbot (z. B. in der Frage
der Ehehindernisse)1 2 nichts vor Gott (B 4).
Biblische und Vernunftkritik — das sind denn auch die Waffen,
mit denen Johann von Wesel —- genau wie einst Wiklif!3 — in
dogmatischen Fragen gegen die gemeinscholastische Überlieferung
kämpft. Den Ausgangspunkt bildet freilich immer — wie bei allen
Ketzern des Spätmittelalters — die laut verkündete Bemühung,
den ursprünglichen Sinn des Evangeliums gegen spätere Entstel-
lung wieder zu Ehren zu bringen; daß aber tatsächlich Erwägungen
menschlicher ratio dabei eine erhebliche Rolle spielen, zeigt beson-
ders lehrreich die Erörterung über das Wesen der Erbsünde im
ersten Marientraktat (B 5).
Er geht darin aus von der Behauptung: eine Unterscheidung
zwischen peccatum originale und actuale sei in den heiligen Schriften
nicht zu finden und erst durch Augustinus aufgebracht. Seine
Definition des peccatum originale als reine Negation der iusticia
originalis, radikaler ausgedrückt als „nihil“, kennen wir schon aus
dem Sentenzenkommentar. Aber dort war, im Sinne der gemein-
okkamistischen Tradition, der jomes peccati, als ein körperliches
Erbe der Menschheit von Adam her, immer noch erhalten geblieben.
Jetzt wird jedes Erbe dieser Art mit Argumenten rein menschlich-
rationaler Art geleugnet: sie entstammen durchaus der Rüstkammer
einer spitzfindigen scholastischen Dialektik.
Eben damit aber verwickelt sich unser Autor in die Schwierig-
keit, den Wortlaut zahlreicher Bibelstellen, insbesondere aus den
paulinischen Briefen und aus dem Alten Testament, wenigstens in
der herkömmlichen Auslegung der Kirche, wider sich zu haben.
Mit ihnen beginnt er nun im zweiten Teil der Abhandlung ein über-
aus hitziges und—wie mir scheint—nicht überall glücklich verlaufen-
1 Genau entsprechend in dem Briefe B 1, b; . . doceatis me ratione vel
divina auctoritate“.
2 Vgl. dazu Ketzerverhör, articuli additionales, DZGW. II, 171, Abs. 7.
3 Vgl. Kropatschek, Das Schriftprinzip der luther. Kirche I (1904),
S. 346 ff.
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad.. phil.-hist. Kl. 1926/27. 5. Abh.
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Die Autorität des kirchlichen Amtes als solche bedeutet unserm
Theologen demnach gar nichts; sie bedarf ihrerseits der Stütze
entweder durch mirakulose Sonderoffenbarung — oder durch die
Bibel oder die Vernunft. Auch für rein juristische Entscheidungen
gilt das: auch da steht über dem Papste und den kirchlichen Oberen
überhaupt das ius divinum und das ius naturaleh Wo diese wider-
sprechen, gilt das kirchliche Gebot oder Verbot (z. B. in der Frage
der Ehehindernisse)1 2 nichts vor Gott (B 4).
Biblische und Vernunftkritik — das sind denn auch die Waffen,
mit denen Johann von Wesel —- genau wie einst Wiklif!3 — in
dogmatischen Fragen gegen die gemeinscholastische Überlieferung
kämpft. Den Ausgangspunkt bildet freilich immer — wie bei allen
Ketzern des Spätmittelalters — die laut verkündete Bemühung,
den ursprünglichen Sinn des Evangeliums gegen spätere Entstel-
lung wieder zu Ehren zu bringen; daß aber tatsächlich Erwägungen
menschlicher ratio dabei eine erhebliche Rolle spielen, zeigt beson-
ders lehrreich die Erörterung über das Wesen der Erbsünde im
ersten Marientraktat (B 5).
Er geht darin aus von der Behauptung: eine Unterscheidung
zwischen peccatum originale und actuale sei in den heiligen Schriften
nicht zu finden und erst durch Augustinus aufgebracht. Seine
Definition des peccatum originale als reine Negation der iusticia
originalis, radikaler ausgedrückt als „nihil“, kennen wir schon aus
dem Sentenzenkommentar. Aber dort war, im Sinne der gemein-
okkamistischen Tradition, der jomes peccati, als ein körperliches
Erbe der Menschheit von Adam her, immer noch erhalten geblieben.
Jetzt wird jedes Erbe dieser Art mit Argumenten rein menschlich-
rationaler Art geleugnet: sie entstammen durchaus der Rüstkammer
einer spitzfindigen scholastischen Dialektik.
Eben damit aber verwickelt sich unser Autor in die Schwierig-
keit, den Wortlaut zahlreicher Bibelstellen, insbesondere aus den
paulinischen Briefen und aus dem Alten Testament, wenigstens in
der herkömmlichen Auslegung der Kirche, wider sich zu haben.
Mit ihnen beginnt er nun im zweiten Teil der Abhandlung ein über-
aus hitziges und—wie mir scheint—nicht überall glücklich verlaufen-
1 Genau entsprechend in dem Briefe B 1, b; . . doceatis me ratione vel
divina auctoritate“.
2 Vgl. dazu Ketzerverhör, articuli additionales, DZGW. II, 171, Abs. 7.
3 Vgl. Kropatschek, Das Schriftprinzip der luther. Kirche I (1904),
S. 346 ff.
Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad.. phil.-hist. Kl. 1926/27. 5. Abh.
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