Metadaten

Ritter, Gerhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1926/27, 5. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 3: Neue Quellenstücke zur Theologie des Johann von Wesel — Heidelberg, 1927

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.38927#0019
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Studien zur Spätscholastik. III.

19

Gedanken erblicher Belastung von Adam her zu liegen schien, wird
als solche radikal abgewiesen. Äußerlich betrachtet ist es eine ähn-
liche Erweichung und Auflösung des grausam konsequenten augu-
stinischen Sündenbegriffs, wie sie auch von Wessel Gansfort und
Pupper von Goch geübt wird. Aber die Motive sind doch ganz
verschieden. Bei Goch freilich glaubt man immerhin ein Fort-
klingen okkamistischer Gedankenreihen zu beobachten — nur daß
er viel konservativer als Wesel sich begnügt, die augustinische
Tradition ein wenig abzuwandeln, statt sie umzustoßen1. Aber
auch bei ihm steht dahinter eine veränderte religiöse Grundhaltung,
die dann bei Wessel Gansfort den Sündenbegriff völlig bestimmt:
eine mystische Auffassung des Erlösungsvorgangs als Einswerden
mit Gott, eine Vermischung metaphysischer mit ethischer Be-
trachtungsweise, der die Sünde mehr als Unvollkommenheit, als
Abstand vom Ziel auf dem Wege zur Vollendung begreiflich ist,
denn als positive Verderbnis, die den ewigen Bruch mit Gott zur
Folge hat. Für Wessel Gansfort, der diese Gedanken am feinsten
und konsequentesten durchgebildet hat, wird die „Erbsünde“ zum
Ausdruck der natürlichen Unvollkommenheit der Menschheit, der
immer wiederder Hang zum amor sui vor die Gottesliebe sich drängt;
die augustinische Vorstellung von der großen Menschheitstragödie
und dem Fluch des ersten Sündenfalls wird nicht geleugnet, aber
sie wird (dank der Sühnetat Christi) ein Stück abgetaner Ver-
gangenheit, gleichgültig gegenüber der jederzeit fortbestehenden
Möglichkeit, daß der Mensch sich mit Gottes Hilfe zum amor Dei
und damit über den Zustand seiner Unvollkommenheit erhebt2.
Das Moment der „Anrechnung“ einer nicht beglichenen Schuld
durch Gott — für den Okkamisten der Zentralbegriff der Erb-
sündenlehre — ist hier ins Wesenlose verblaßt.
Enger als in diesen rein religiös-dogmatischen Fragen berühren
sich, wie es scheint, die Ansichten der drei Reformtheologen in den
Erörterungen über Ursprung und Ausdehnung der kirchlichen
Schlüsselgewalt. Im Streite Wesels mit seinem früheren Erfurter
Kollegen, dem Mainzer Domprediger Johann de Lutra (B l)3 wird
1 Vgl. Clemen, Goch 95, 99ff., 198, 2161.
2 Vgl. van Veen, PRE XXI, 136ff. -— Fizely, Wessel Gansfort (Gött.
Diss.), Leva 1911, S. 34ff.
3 Über ihn bemerkt Wigandus Wirt in seinem Dialogus apologeticus
(Hain-Copinger 16 219, s. u. Kap. 5), daß auch er dem Ketzerprozeß Wesels
beiwohnte: Egregius et famosissimus magisier Johannes de Lutrea predicans
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften