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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1926/27, 5. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 3: Neue Quellenstücke zur Theologie des Johann von Wesel — Heidelberg, 1927

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https://doi.org/10.11588/diglit.38927#0024
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Gerhard Ritter:

„Rat“ gegeben hat, dürfen Papst und Kirche nicht zum Zwang,
zur Vorschrift machen. Und wie kein Verbot, so gilt auch keine
Predigt etwas, die nicht aus dem Evangelium fließt. Dazu gehört
aber im strengsten Sinne das ganze Neue Testament, wie für die
Apostelbriefe eigens nachgewiesen wird1. Gegen eine (damals oft
zitierte) mißverständliche Augustinstelle wird — mit fast wört-
lichem Anklang an Wessel Gansfort2 ■— betont, daß nicht der
Glaube der Kirche, sondern die Gottheit Christi die unbedingte
Autorität des Evangeliums verbürgt. Denn keine Schrift wird des-
halb wahr, weil die Kirche sie angenommen hat; das zeigen u. a.
die Schriften Augustins, von denen er selber sagt, daß sie viel
Irrtum enthalten. Zwar ist es wahr, daß „die Kirche“ in Glaubens-
dingen nicht irren kann; aber das gilt (wie hier nur angedeutet
wird) ausschließlich von jener Kirche, die Christus meint, wenn er
von dem festen Felsen spricht, auf den er „seine Kirche“ bauen
wolle, d. h. von der Kirche als corpus mysticum Christi3.
Das ist spätmittelalterlicher Biblizismus in denkbar schroffster
Form; daß Johann von Wesel keineswegs gewillt ist (trotz jener
konventionellen Verbeugung vor der dogmatischen Unfehlbarkeit
„der Kirche“) Bibel und kirchliche Tradition gleichwertig neben-
einander zu stellen, zeigt der ausdrückliche (fast spöttisch klin-
gende) Widerruf seines einst auf der Hochschule geleisteten Eides,
daß er niemals der römischen Lehrtradition widersprechen werde.
Und ähnlich bezeugt es die ,,protestacio“ am Anfang seines Ablaß-
traktates: indem sie den Verfasser nur an die heiligen Schriften
bindet, dagegen den Widerspruch gegen alle anderen Autoritäten
ihm ausdrücklich offenhält4, bedeutet sie einen gewollten und be-
1 Nicht dagegen für das A.T., was vielleicht doch nicht bloßer Zufall
ist. Die Autorität des A.T. wird zwar nicht preisgegeben, aber doch offen-
sichtlich geringer gewertet, als die desN.T., vgl. tract. de indulgentiis cap. 42
(Walch, Monim. I, 145f.); in der Aufzählung der auctoritates zu Eingang des
Ablaßtraktates fehlt das A.T. ganz!
2 De potest. eccl., Opp. 759. Umgekehrt (Augustin zustimmend) äußert
sich höchst charakteristischerweise der streng konservative Goch: Clemen,
a. a. O. 84, 191.
3 Diese Deutung der etwas dunkeln Stelle ergibt sich: a) aus dem Traktat
de indulgentiis cap. LII—LIY (Walch, Monim. I, 153ff.). b) aus dem Ketzer-
verhör Punkt 10. c) aus der in unserm Text sogleich folgenden Unterschei-
dung zwischen ,,ecclesia katholica“ und ,,ecclesia Romana“. Vgl. auch das
letzte der Paradoxa: d’Argentre 292.
4 Walch, Monim. I, 114f. Beachte auch die Wendung in dem Schreiben
an Bischof Reinhard von Sickingen: Iji sermonibus meis semper protestatus
 
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