Metadaten

Ritter, Gerhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1926/27, 5. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 3: Neue Quellenstücke zur Theologie des Johann von Wesel — Heidelberg, 1927

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.38927#0026
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
26

Gerhard Ritter:

ruhte auf denselben beiden Prinzipien, von denen alle geistige
Bewegung in der Spätscholastik ausging, und deren innere Unverein-
barkeit seit Okkam nur immer deutlicher geworden war; die Zu-
versichtlichkeit, mit der Wesel über diese Unvereinbarkeit hinweg-
sah, beweist einen hohen Grad von Naivetät.
Im übrigen ist nicht einer der Gedanken, die er zur Dogmen-
und Kirchenkritik vorbringt, originell; nicht einer weist in die
Zukunft -— es sind durchweg die alten schon oft gespielten Melodien
spätmittelalterlicher Opposition, die wir noch einmal hören. Daß
auch der Ablaßtraktat die Grenzen dieser Opposition nicht über-
schreitet, hat man längst erkannt. Wir begreifen ihn jetzt vollends
aus dem Zusammenhang des bisher Gehörten als ein Produkt spät-
mittelalterlichen Denkens.
Welche Motive führen Johann von Wesel zur Leugnung der
Kraft der Ablässe ? Entscheidend ist jene im späten Mittelalter so
oft mit polemischer Schärfe ausgesprochene Auffassung der priester-
lichen Gewalt als potestas ministerialis, non principalis, die wir als
den Zentralgedanken des Briefwechsels mit Johann von Kaisers-
lautern kennen lernten: Gott selber handelt im Sakrament, der
Priester verkündet nur die mysteria des göttlichen Willens. Sie
verbindet sich mit dem skotistisch-okkamistischen Motiv der Ab-
neigung gegen eine Einengung der absoluten Allmacht (bzw. Will-
kür) des göttlichen Willens durch die fromme ratio: uns gleichfalls
wohlbekannt aus Wesels Lehre über die Kindertaufe im Sentenzen-
kommentar und in dem größeren Marientraktat (s. ob. S. 11 bzw. 18).
Es muß Gott ganz allein überlassen bleiben, welche poenae temporales
er für die Sünde festsetzen will; die Meinung der sancti patres, es
sei möglich, Gott etwas davon abzudingen durch Auflegung kirch-
licher Bußstrafen, ist eine pia frans. Und vollends die Vorstellung,
als ob eine Aufrechnung der Verdienste Christi und der Heiligen
gegen die Verschuldung irgend eines Sünders — eine quantitative
Gleichung also -— möglich und sogar durch Menschenhand vollzieh-
bar sei, schlägt der Majestät Gottes ins Gesicht. Welcher Mensch
könnte es wagen, ihm das Maß der zu verhängenden Strafen vor-
zuschreiben ? Wer kann wissen, ob ihm nicht schon die geringste
zeitliche Strafe genügt,auch zum Entgelt für die schwersten Sünden ?
Soweit ist alles konsequent gedacht im Sinne einer vollkom-
menen Irrationalität des göttlichen Willens. Aber der Druck des
kirchlichen Herkommens und die Gewohnheit, neben der Offen-
barung die ratio als zweite Stütze zu gebrauchen, drängen unsern
Scholastiker an zwei Stellen über diese Linie hinaus.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften