Studien zur Spätscholastik. III.
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nähme des Magister(,,Meister“-)titels als Verstoß gegen Christi
Gebot — das ist eine Polemik, die in hussitischen Kreisen zwar
längst gebräuchlich war, die aber niemand unserm Erfurter Pro-
fessor Zutrauen wird —, ihm, der sich einmal gerühmt haben soll,
als Doktor der Theologie einem Augustinus ebenbürtig zu sein1.
Das alles gilt einstweilen nur für den ersten Teil unseres Trak-
tats. Der zweite (S. 143—154) nimmt das Thema noch einmal ganz
von vorne auf, so daß man fast in Versuchung gerät, das Ganze
für eine nachträglich zusammengeflickte Mehrheit von Einzel-
traktaten zu halten. Noch einmal hören wir, daß und weshalb die
päpstlichen Gebote nur soweit binden, als sie auf die lex divina
gegründet sind2 und zur Förderung der charitas dienen. Aber der
Ton ist auf einmal ganz verändert. Umständlich wird erwogen,
welches Maß von Freiheit dem einzelnen Christen in der Prüfung
der Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit kirchlicher Gebote zu-
steht; sogleich wird dargetan, daß in vielen Fällen die Liebe zum
Nächsten, die Gefahr, ihm ein Ärgernis zu geben, erfordert, sich
auch solchen Geboten zu fügen, von deren Rechtmäßigkeit der
einzelne nicht überzeugt ist u. dgl. m. Sodann aber wird das Ideal
einer wahren Kirche, eine Gemeinschaft der Heiligen entwickelt,
in der das Gebot der Liebe alles durchdringt, in der der Geringste
und Verachtetste dem Papste gleich, als sein Bruder in Christo gilt,
berechtigt, ihn zurechtzuweisen, wo es fehlt. Christus selber ist
das Haupt dieser Kirche, alle Gläubigen seine Glieder. In ihnen
allen waltet der Geist der Liebe, der heilige Geist; Gesetzes-
erfüllung gilt nichts in ihr, wenn sie nicht mit freudigem Herzen,
mit ganzer freier Hingabe des Willens geschieht. Alle Ängstlich-
keit und Furcht vor dem Gesetz ist verschwunden, da der Geist
der Freiheit herrscht als oberstes Gesetz — die Freiheit eines
Christenmenschen (libertas christianae mentis). Si Christum habe am,
penitissima animi penetralia moderantem, cui data erat omnis potestas
tum in coelo tum in terra, quomodo non habeo unam cum Deo pote-
statem mihi gratis donatam? Der wahre Gläubige steht supra legem,
er ist cum deo unus iam effectus Spiritus, er hat darum auch inner-
lich nichts mehr zu schaffen mit dem Papst, einem Menschen wie
andere, er hofft nichts von den Menschen, er fürchtet sie auch nicht:
1 Paulus, Katholik (1898) I, 48, Anm. 1.
2 Dabei an Sätze Joh. von Wesels erinnernd: daß die praelati nicht
gebieten können sub peccato mortali (S.143 u. 146/7) und daß ihnen Gewalt
gegeben ist in exstructionem fidei, non destructionem (ebd.).
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nähme des Magister(,,Meister“-)titels als Verstoß gegen Christi
Gebot — das ist eine Polemik, die in hussitischen Kreisen zwar
längst gebräuchlich war, die aber niemand unserm Erfurter Pro-
fessor Zutrauen wird —, ihm, der sich einmal gerühmt haben soll,
als Doktor der Theologie einem Augustinus ebenbürtig zu sein1.
Das alles gilt einstweilen nur für den ersten Teil unseres Trak-
tats. Der zweite (S. 143—154) nimmt das Thema noch einmal ganz
von vorne auf, so daß man fast in Versuchung gerät, das Ganze
für eine nachträglich zusammengeflickte Mehrheit von Einzel-
traktaten zu halten. Noch einmal hören wir, daß und weshalb die
päpstlichen Gebote nur soweit binden, als sie auf die lex divina
gegründet sind2 und zur Förderung der charitas dienen. Aber der
Ton ist auf einmal ganz verändert. Umständlich wird erwogen,
welches Maß von Freiheit dem einzelnen Christen in der Prüfung
der Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit kirchlicher Gebote zu-
steht; sogleich wird dargetan, daß in vielen Fällen die Liebe zum
Nächsten, die Gefahr, ihm ein Ärgernis zu geben, erfordert, sich
auch solchen Geboten zu fügen, von deren Rechtmäßigkeit der
einzelne nicht überzeugt ist u. dgl. m. Sodann aber wird das Ideal
einer wahren Kirche, eine Gemeinschaft der Heiligen entwickelt,
in der das Gebot der Liebe alles durchdringt, in der der Geringste
und Verachtetste dem Papste gleich, als sein Bruder in Christo gilt,
berechtigt, ihn zurechtzuweisen, wo es fehlt. Christus selber ist
das Haupt dieser Kirche, alle Gläubigen seine Glieder. In ihnen
allen waltet der Geist der Liebe, der heilige Geist; Gesetzes-
erfüllung gilt nichts in ihr, wenn sie nicht mit freudigem Herzen,
mit ganzer freier Hingabe des Willens geschieht. Alle Ängstlich-
keit und Furcht vor dem Gesetz ist verschwunden, da der Geist
der Freiheit herrscht als oberstes Gesetz — die Freiheit eines
Christenmenschen (libertas christianae mentis). Si Christum habe am,
penitissima animi penetralia moderantem, cui data erat omnis potestas
tum in coelo tum in terra, quomodo non habeo unam cum Deo pote-
statem mihi gratis donatam? Der wahre Gläubige steht supra legem,
er ist cum deo unus iam effectus Spiritus, er hat darum auch inner-
lich nichts mehr zu schaffen mit dem Papst, einem Menschen wie
andere, er hofft nichts von den Menschen, er fürchtet sie auch nicht:
1 Paulus, Katholik (1898) I, 48, Anm. 1.
2 Dabei an Sätze Joh. von Wesels erinnernd: daß die praelati nicht
gebieten können sub peccato mortali (S.143 u. 146/7) und daß ihnen Gewalt
gegeben ist in exstructionem fidei, non destructionem (ebd.).
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