Fabel, Aretalogie, Novelle.
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Apul. VI 27 und Luk. 23 benützt der Esel die Abwesenheit der
Räuber zum Fluchtversuch; er gelingt zunächst, weil die Alte das
Tier nicht halten kann, und das Mädchen, statt ihr zu helfen, sich
auf den Rücken des Esels schwingt, uro mit ihm zu fliehen.
In beiden Quellen hat der Esel das brennende Verlangen, das
schöne Mädchen zu retten, nur daß bei Apul. 28 der Esel stolz wie
ein Pferd galoppiert und galant-lüstern die Füße des reitenden
Mädchens mit den Lefzen küßt. Beiden Quellen gemeinsam ist
ferner eine Rede des Mädchens, die dem Esel Belohnung verheißt.
Bei Lukian (23) nur kurz: „Wenn du mich zu meinem Vater bringst,
sollst du nicht mehr zu arbeiten brauchen und jeden Tag einen
Scheffel Hafer zum Frühstück erhalten.“ Bei Apul. muß schon des-
halb mehr gesagt werden, weil zum Gedanken ans Elternhaus noch
der an den Bräutigam kommt; die ganze gestörte Hochzeit fehlt ja
bei Lukian, aber sie stand, wie wir sahen, bei Lukios von Patrai.
Bei Apul. 28 haben wir zunächst ein Gebet des Mädchens an
die Superi und Fortuna um Mitleid. Dann apostrophiert sie den
Esel: tnqiie, praesidium meae libertatis meaeque salutis, si me domuni
pervexeris incolumem parentibnsque et formonso proco reddideris,
quas tibi graticis perhibebo, quos honores habebo, quos cibos exhibebo!
Sie will ihn kämmen, sauber halten, mit Goldschmuck zieren. Das
Volk soll ihm zujubeln und ihn in einer pompa begleiten; die herr-
lichsten Leckerbissen soll er erhalten. Aber noch mehr an dignitas
gloriosa soll ihm zuteil werden: ein Votivbild im Atrium des
Hauses soll von der göttlichen Vorsehung zeugen, die Geschichte
soll als fabula im Volk erzählt, soll von Dichtern ausgeschmückt
und literarisch verbreitet werden unter dem Titel „Die auf einem
Esel der Gefangenschaft entronnene königliche Prinzes-
sin“. Der Esel als Held wird sich den „antiken Wunderge-
schichten“ anreihen, und die neue Geschichte wird alte Mythen be-
glaubigen, von Phrixus, Arion, Europa; ja, wenn Juppiter sich in einen
Stier verwandelte, dann stecke wohl gar im Esel ein Mensch oder Gott.
Diesen kapitalen Teil der Rede des Mädchens muß ich im
Wortlaut geben und einiges dazu anmerken (VI 29): nee . . . deerit
tibi dignitas gloriosa. nam memoriam praesentis fortunae meae divi-
naeque providentiae perpetua testatione signabo et depictam in
tabula fugae praesentis imaginem meae domus atrio de-
dicubo.1 visetur et in fabulis audietur doctorumque stilis
1 Vgl. hierzu den Exkurs S. 20ff.
Sitzungsberichte der Heidelb. Akademie, phil.-hist. Kl. 1930/31. 6. Abb. 2
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Apul. VI 27 und Luk. 23 benützt der Esel die Abwesenheit der
Räuber zum Fluchtversuch; er gelingt zunächst, weil die Alte das
Tier nicht halten kann, und das Mädchen, statt ihr zu helfen, sich
auf den Rücken des Esels schwingt, uro mit ihm zu fliehen.
In beiden Quellen hat der Esel das brennende Verlangen, das
schöne Mädchen zu retten, nur daß bei Apul. 28 der Esel stolz wie
ein Pferd galoppiert und galant-lüstern die Füße des reitenden
Mädchens mit den Lefzen küßt. Beiden Quellen gemeinsam ist
ferner eine Rede des Mädchens, die dem Esel Belohnung verheißt.
Bei Lukian (23) nur kurz: „Wenn du mich zu meinem Vater bringst,
sollst du nicht mehr zu arbeiten brauchen und jeden Tag einen
Scheffel Hafer zum Frühstück erhalten.“ Bei Apul. muß schon des-
halb mehr gesagt werden, weil zum Gedanken ans Elternhaus noch
der an den Bräutigam kommt; die ganze gestörte Hochzeit fehlt ja
bei Lukian, aber sie stand, wie wir sahen, bei Lukios von Patrai.
Bei Apul. 28 haben wir zunächst ein Gebet des Mädchens an
die Superi und Fortuna um Mitleid. Dann apostrophiert sie den
Esel: tnqiie, praesidium meae libertatis meaeque salutis, si me domuni
pervexeris incolumem parentibnsque et formonso proco reddideris,
quas tibi graticis perhibebo, quos honores habebo, quos cibos exhibebo!
Sie will ihn kämmen, sauber halten, mit Goldschmuck zieren. Das
Volk soll ihm zujubeln und ihn in einer pompa begleiten; die herr-
lichsten Leckerbissen soll er erhalten. Aber noch mehr an dignitas
gloriosa soll ihm zuteil werden: ein Votivbild im Atrium des
Hauses soll von der göttlichen Vorsehung zeugen, die Geschichte
soll als fabula im Volk erzählt, soll von Dichtern ausgeschmückt
und literarisch verbreitet werden unter dem Titel „Die auf einem
Esel der Gefangenschaft entronnene königliche Prinzes-
sin“. Der Esel als Held wird sich den „antiken Wunderge-
schichten“ anreihen, und die neue Geschichte wird alte Mythen be-
glaubigen, von Phrixus, Arion, Europa; ja, wenn Juppiter sich in einen
Stier verwandelte, dann stecke wohl gar im Esel ein Mensch oder Gott.
Diesen kapitalen Teil der Rede des Mädchens muß ich im
Wortlaut geben und einiges dazu anmerken (VI 29): nee . . . deerit
tibi dignitas gloriosa. nam memoriam praesentis fortunae meae divi-
naeque providentiae perpetua testatione signabo et depictam in
tabula fugae praesentis imaginem meae domus atrio de-
dicubo.1 visetur et in fabulis audietur doctorumque stilis
1 Vgl. hierzu den Exkurs S. 20ff.
Sitzungsberichte der Heidelb. Akademie, phil.-hist. Kl. 1930/31. 6. Abb. 2