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Martin Dibelius:
So erscheint das Evangelium infantiae des Lukas als ein kunst-
volles und einheitliches Gebilde von harmonischen Verhältnissen.
Trotzdem muß der Versuch einer Dekomposition unternommen
werden. Vor allem fordern allgemeine Grundsätze der Sagen-
forschung dazu auf: wenn hier volkstümliche Überlieferung ge-
sammelt oder verarbeitet ist, wenn nicht oder nicht wesentlich
literarische Konzeption vorliegt, dann müssen Einzelgeschichten
den Kern des Ganzen bilden. Im Grunde zweifelt niemand, daß
der wichtigste Inhalt dieses Evangelium infantiae volkstümliches
Traditionsgut ist1; dann muß man sich aber auch daran gewöhnen,
die Geschichten als kleine Einheiten zu sehen und die eine ohne
Eintragungen aus der anderen zu erklären. Denn was zuerst in
der Tradition lebt, ist die Legende, nicht der Legendenkranz.
Sodann aber ergibt sich die Notwendigkeit einer Dekomposition
aus dem Verhältnis, in dem Johannes und Jesus zueinander stehen.
Die christliche Überlieferung ist an dem Täufer nur unter einem
Gesichtspunkt interessiert: er ist der Vorläufer Jesu, die Tradition
von ihm ist, wie Markus sagt, die αρχή του εύαγγελίου, sein Werk
steht von vornherein unter der Überschrift des Prophetenworts
vom Rufer in der Wüste2. Wenn darum auch Lukas seinen Bericht
vom Wirken Jesu mit einer Darstellung der Taufbewegung des
Johannes beginnt, 3, 1, so liegt es für ihn nahe, auch diese Schil-
derung, wie so viele andere, vorzubereiten und einzuleiten. Das
εύαγγέλί,ον macht eine Kindheitsgeschichte Jesu notwendig, die αρχή
του εύαγγελίου aber eine „Vorgeschichte“ des Täufers. Die Über-
legenheit Jesu, deren Betonung den Christen unentbehrlich ist,
tritt, wie wir sahen, in der Komposition des ganzen Evangelium
infantiae hervor. Die entsprechende Unterlegenheit des Täu-
fers tritt aber in der Geburtsgeschichte des Täufers überhaupt
nicht hervor3; diese Erzählungen können also nicht christlicher
Herkunft sein, denn sie ignorieren das, was für Christen die Ge-
schichte des Täufers überhaupt erst erzählenswert macht. Es han-
delt sich um zwei zusammengehörige Texte, die Geschichte von der
Verkündigung und von der Geburt und Namengebung des Jo-
1 Es versteht sich bei einem Autor wie Lukas von selbst, daß er dieses
Traditionsgut sprachlich bearbeitet hat. Infolgedessen finden sich in den ver-
schiedenen Überlieferungen lukanische Ausdrücke.
2 Vgl. meine Untersuchung: Die urchristliche Überlieferung von Jo-
hannes dem Täufer, 1911.
3 Das ist neuerdings besonders von Kattun busch, Th. Stud. u. Krit.,
1930, 464Γ., betont.
Martin Dibelius:
So erscheint das Evangelium infantiae des Lukas als ein kunst-
volles und einheitliches Gebilde von harmonischen Verhältnissen.
Trotzdem muß der Versuch einer Dekomposition unternommen
werden. Vor allem fordern allgemeine Grundsätze der Sagen-
forschung dazu auf: wenn hier volkstümliche Überlieferung ge-
sammelt oder verarbeitet ist, wenn nicht oder nicht wesentlich
literarische Konzeption vorliegt, dann müssen Einzelgeschichten
den Kern des Ganzen bilden. Im Grunde zweifelt niemand, daß
der wichtigste Inhalt dieses Evangelium infantiae volkstümliches
Traditionsgut ist1; dann muß man sich aber auch daran gewöhnen,
die Geschichten als kleine Einheiten zu sehen und die eine ohne
Eintragungen aus der anderen zu erklären. Denn was zuerst in
der Tradition lebt, ist die Legende, nicht der Legendenkranz.
Sodann aber ergibt sich die Notwendigkeit einer Dekomposition
aus dem Verhältnis, in dem Johannes und Jesus zueinander stehen.
Die christliche Überlieferung ist an dem Täufer nur unter einem
Gesichtspunkt interessiert: er ist der Vorläufer Jesu, die Tradition
von ihm ist, wie Markus sagt, die αρχή του εύαγγελίου, sein Werk
steht von vornherein unter der Überschrift des Prophetenworts
vom Rufer in der Wüste2. Wenn darum auch Lukas seinen Bericht
vom Wirken Jesu mit einer Darstellung der Taufbewegung des
Johannes beginnt, 3, 1, so liegt es für ihn nahe, auch diese Schil-
derung, wie so viele andere, vorzubereiten und einzuleiten. Das
εύαγγέλί,ον macht eine Kindheitsgeschichte Jesu notwendig, die αρχή
του εύαγγελίου aber eine „Vorgeschichte“ des Täufers. Die Über-
legenheit Jesu, deren Betonung den Christen unentbehrlich ist,
tritt, wie wir sahen, in der Komposition des ganzen Evangelium
infantiae hervor. Die entsprechende Unterlegenheit des Täu-
fers tritt aber in der Geburtsgeschichte des Täufers überhaupt
nicht hervor3; diese Erzählungen können also nicht christlicher
Herkunft sein, denn sie ignorieren das, was für Christen die Ge-
schichte des Täufers überhaupt erst erzählenswert macht. Es han-
delt sich um zwei zusammengehörige Texte, die Geschichte von der
Verkündigung und von der Geburt und Namengebung des Jo-
1 Es versteht sich bei einem Autor wie Lukas von selbst, daß er dieses
Traditionsgut sprachlich bearbeitet hat. Infolgedessen finden sich in den ver-
schiedenen Überlieferungen lukanische Ausdrücke.
2 Vgl. meine Untersuchung: Die urchristliche Überlieferung von Jo-
hannes dem Täufer, 1911.
3 Das ist neuerdings besonders von Kattun busch, Th. Stud. u. Krit.,
1930, 464Γ., betont.