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Eduard Fraenkel:
fertigung seiner Gonjectur hielt er nichts weiter für nötig als zu
behaupten, daß sie sich bei genauer Auslegung, aber nur bei ge-
nauer, von seihst ergehe. Dieser diktatorische Satz hat den ge-
wünschten Eindruck auf Kiessling1 gemacht: er übernahm ihn
wörtlich in seinen Kommentar (1884), begnügte sich aber nicht
damit, sondern versuchte seinerseits das überlieferte concines als
absurd zu erweisen2 und malte dann phantasievoll aus, was dem
wie er glaubte nunmehr gesicherten Wortlaut entnommen werden
müsse. In concinet maiore poeta plectro, mit Verschweigung des
Namens, sei die leise Ironie gegen den von den Consuln (Tiberius
und P. Quinctilius Varus) mit der Abfassung der offiziellen Be-
grüßungsode betrauten '‘größeren’ Kollegen unverkennbar. Diese
Sanktionierung des Lachmann sehen Fehlgriffs durch den bedeu-
tenden Kommentar rief nach wenigen Jahren (1889) einen scharfen
Angriff Buechelers3 hervor, der Kiessling zwar nicht nennt,
sich aber unverkennbar auf seine Darlegung bezieht. Mit vollem
Bechte weist Buecheler die Änderung ab, cwonach Horaz statt
von Julus, etwas ins Blaue hinein von irgendeinem Dichter spräche’.
Mit Becht auch sucht er die Entscheidung über den Sinn der um-
strittenen Stelle aus dem zu gewinnen, was er rdie Entwicklung der
ganzen Ode’ nennt. Aber gerade hier gerät er sogleich auf einen
Abweg, verführt durch jenen Trieb des Combinierens, der in der
Philologie zu großen Entdeckungen befähigt hat, der aber immer
dann mißleiten muß, wenn eine von außen her uns bekannt ge-
wordene Tatsache in das zu erklärende Gedicht selbst in keiner
Weise, nicht einmal in andeutender Form, eingeschlossen ist. Kaum
irgend etwas hat gerade die Horazerklärung so schlimm geschädigt
wie das Hineintragen unzeitiger Gelehrsamkeit, zumal es fast immer
die ohnehin nur schwer erwerbbare Fähigkeit mindert das vom
Dichter Ausgesprochene rein und vollständig aufzunehmen. Herders
1 Außerdem wurde Fachmanns Gonjectur z. B. auch von Meineke und
Haupt aufgenommen.
2 Da Kiesslings Erstausgabe selten geworden ist, wiederhole ich hier
das Hauptstück seiner Argumentation, denn von ihr sind, trotz der Ableh-
nung der Conjectur, die späteren Interpreten in entscheidenden Stücken ab-
hängig: rconcinet: das überlieferte concines macht Antonius zu dem Thoren
der sich in den Wettstreit mit Pindar, den H. selbst als aussichtslos ablehnt,
einlassen wolle; soll dem aber die Meinung unterliegen, daß Antonius als
größerem Dichter gelingen werde, was dem parvus Horatius unmöglich sei,
so würde das im Munde des Romanae fidicen lyrae kein Kompliment mehr
sein, sondern als Hohn erscheinen müssen.’
3 Rhein. Mus. 44, 1889, 318 = Kl. Schriften III 162.
Eduard Fraenkel:
fertigung seiner Gonjectur hielt er nichts weiter für nötig als zu
behaupten, daß sie sich bei genauer Auslegung, aber nur bei ge-
nauer, von seihst ergehe. Dieser diktatorische Satz hat den ge-
wünschten Eindruck auf Kiessling1 gemacht: er übernahm ihn
wörtlich in seinen Kommentar (1884), begnügte sich aber nicht
damit, sondern versuchte seinerseits das überlieferte concines als
absurd zu erweisen2 und malte dann phantasievoll aus, was dem
wie er glaubte nunmehr gesicherten Wortlaut entnommen werden
müsse. In concinet maiore poeta plectro, mit Verschweigung des
Namens, sei die leise Ironie gegen den von den Consuln (Tiberius
und P. Quinctilius Varus) mit der Abfassung der offiziellen Be-
grüßungsode betrauten '‘größeren’ Kollegen unverkennbar. Diese
Sanktionierung des Lachmann sehen Fehlgriffs durch den bedeu-
tenden Kommentar rief nach wenigen Jahren (1889) einen scharfen
Angriff Buechelers3 hervor, der Kiessling zwar nicht nennt,
sich aber unverkennbar auf seine Darlegung bezieht. Mit vollem
Bechte weist Buecheler die Änderung ab, cwonach Horaz statt
von Julus, etwas ins Blaue hinein von irgendeinem Dichter spräche’.
Mit Becht auch sucht er die Entscheidung über den Sinn der um-
strittenen Stelle aus dem zu gewinnen, was er rdie Entwicklung der
ganzen Ode’ nennt. Aber gerade hier gerät er sogleich auf einen
Abweg, verführt durch jenen Trieb des Combinierens, der in der
Philologie zu großen Entdeckungen befähigt hat, der aber immer
dann mißleiten muß, wenn eine von außen her uns bekannt ge-
wordene Tatsache in das zu erklärende Gedicht selbst in keiner
Weise, nicht einmal in andeutender Form, eingeschlossen ist. Kaum
irgend etwas hat gerade die Horazerklärung so schlimm geschädigt
wie das Hineintragen unzeitiger Gelehrsamkeit, zumal es fast immer
die ohnehin nur schwer erwerbbare Fähigkeit mindert das vom
Dichter Ausgesprochene rein und vollständig aufzunehmen. Herders
1 Außerdem wurde Fachmanns Gonjectur z. B. auch von Meineke und
Haupt aufgenommen.
2 Da Kiesslings Erstausgabe selten geworden ist, wiederhole ich hier
das Hauptstück seiner Argumentation, denn von ihr sind, trotz der Ableh-
nung der Conjectur, die späteren Interpreten in entscheidenden Stücken ab-
hängig: rconcinet: das überlieferte concines macht Antonius zu dem Thoren
der sich in den Wettstreit mit Pindar, den H. selbst als aussichtslos ablehnt,
einlassen wolle; soll dem aber die Meinung unterliegen, daß Antonius als
größerem Dichter gelingen werde, was dem parvus Horatius unmöglich sei,
so würde das im Munde des Romanae fidicen lyrae kein Kompliment mehr
sein, sondern als Hohn erscheinen müssen.’
3 Rhein. Mus. 44, 1889, 318 = Kl. Schriften III 162.