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Immisch, Otto; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1933/34, 2. Abhandlung): Catulls Sappho — Heidelberg, 1933

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https://doi.org/10.11588/diglit.40167#0012
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12

Otto Immisch:

Spuren einer Gesinnung, die das negotium über das otium zu stellen
mindestens für Pflicht hielte. Hier wäre der einzige Selbstvorwurf
dieser Art, noch dazu, wie jeder einräumen muß, an der dazu unge-
eignetsten Stelle. Denn werben um seine Lesbia will er doch durch
das sapphische Leidenschaftsbekenntnis. Sie ists doch vor allem,
die das Blatt mit diesen Versen lesen soll. Und nun gerade vor ihr
dies flügellahme Zusammensinken, dieser Abschluß mit etwas wie
reuevoller Katzenjämmerlichkeit ? Mir scheint das völlig undenk-
bar. Undenkbarer freilich noch in der Wendung, die Baehrens
und vorher Westphal der Sache geben wollten ^ Lesbia ist eine
verheiratete Frau, Catull hielt sie damals für eine ehrbare Matrone.
Vielleicht ist er mit dem sapphischen Geständnis schon zu weit
gegangen. Hart abbrechend — wiederum das Verkennen der vorauf-
gehenden abgerundeten Schlußfigur! — fügt er deshalb in der Form
des Selbstverweises eine excusatio licentiae iam sibi permissae hinzu
(wohl im Sinne des Theophrasteums: spo^ ttahop c^oXa^ouaT)^,
Stob. IV 20, 66). — Was ist das für ein Freier, der vor seiner Dame
spricht: 'Verzeih, Du Holde, daß mich der Gedanke an das Glück,
das ein andrer in Deiner Nähe genießt, wie dereinst die lesbische
Dichterin so ganz aus aller Fassung bringt. Indessen -—ich langweile
mich, und Müßiggang ist aller Laster Antang!’
Kein Wunder, daß dergleichen nicht befriedigte. Weshalb
dann andre zu den sonderbarsten Gewaltsamkeiten griffen. So sah
Goldbacher (Wiener Stud. XXIX 1907, 111 ff.) im otium nicht
das otium civile, sondern ein otium litteratum oder poeticum, das
Spiel der Dichterphantasie. „Zurück, Catull ■— so sollen wir ver-
stehen — Deine Phantasie verleitete Dich soeben, Dich in den
Seelenzustand der Sappho einzuleben. So etwas ist gefährlich und
kann Dich zugrunde richten: Hat doch dieselbe Phantasie Fürsten
und Städte gestürzt.“ Wobei otium perdidit soviel sein soll wie
poetarum otium finxit reges et urbes per iss e! Wo exsultas und nimium
gestis bei solch wunderlicher Exegese bleibt, fragt man umsonst.
Eine Verzweiflungsauskunft ists schließlich, wenn Friedrich
glaubt, als das Gedicht zum ersten Male in einem catullischen
Liederheft erschien, habe es wirklich mit der dritten Strophe ge-
schlossen. Die vierte sei später zugefügt, als ein Nachwort, zurück-
schauend auf das Verhängnis der inzwischen abgesc hlossenen großen
Passion, voll Selbsterkenntnis (wie sie doch aber bezüglich des
otium und negotium, auch dem späteren Catull fern liegt). Und wie
soll man das Postscriptum als solches erkennen, wenn wir statt der
 
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