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Otto Immisch:
natürlichere Auffassung der psychologischen Voraussetzungen nahe,
als wie sie bei Kalinka zum Ausdruck kommt (ich möchte damit
zugleich den Zweifeln von Vulic begegnen, die bald darauf, auch
gegen die Annahme der dialogischen Form, geäußert wurden,
Wiener Stud. XXXII 1910, 316ff.). Man kann sich gut vorstellen,
daß sich zunächst vor allem der Altersunterschied geltend machte
zwischen der vollerblühten, weltgewandten, vornehmen und im
politischen Leben mitten drin stehenden stadtrömischen Matrona
und dem sie umwerbenden blutjungen, leidenschaftlichen, ganz nur
der Poesie hingegebenen Provinzialen. Ob ganz aus echter Empfin-
dung heraus oder berechnet, oder aber in eine1’ Mischung beider
Möglichkeiten, mag das erste Entgegenkommen Clodias sehr wohl
in einer etwas mütterlich sorgenden Zuneigung sich geäußert haben,
aus welchem Keim alsdann die leidenschaftliche Gegenliebe zu dem
Jugendlichen sich entfaltete. In den Anfängen wird diesem der
erzieherisch fürsorgliche Ton gewiß gar oft eine schmerzende Ent-
täuschung bereitet haben, namentlich wenn die selber in bewegtem
politischen Leben stehende Römerin die Schuld an seinem exsultare
und nimium gestire dem unrömischen otium zu schrieb, dem er
huldigte.
Jedoch diese seine seelische Lage, fand sie nicht ebenso gut wie
das Bekenntnis der alle Sinne verwirrenden Leidenschafl selber
bei der gleichen griechischen Dichterin ihr Gegenbild ? War Clodia
seine Sappho, warum sollte er nicht ihr Alkaios sein, der Werbende
und gleichfalls mit einer etwas erzieherinmäßigen kleinen Straf-
predigt abgewiesene ? Die Tradition darüber war damals in der
literarisch gebildeten Welt, zu welcher Clodia-Lesbia gewiß zählte,
zweifellos wohlbekannt. Ursprünglich war es ein Stück jener alti-
onischen Fabulistik in prosimetrischer Form, die neben andern
Gestalten von Sängern und Weisen besonders auch die lyrischen
Dichter in ihre Kreise zog. Ich verweise auf meine Ausführungen
darüber in Ilbergs Jahrbb. XXIV 1921, 409ff., weil ich glaube,
der dort gezogene Vergleich mit den provenzalischen Razos sollte
etwas mehr beachtet werden ; denn in der Tat ist es nach Form und
Gehalt die gleiche Art, wie da im Stil volkstümlicher Novellistik
irgendwie berühmte Lieder oder Strophen der Troubadours bio-
graphisch gleichsam kommentiert werden. Das Stück vom Wechsel-
gesang zwischen Alkaios und Sappho hatte mit vollem Recht
Maas kurz vorher auf eine solche altionische Sängernovelle zurück-
geführt (Sokrates VIII 1920, 20ff-), wie früher Crusius die noch
Otto Immisch:
natürlichere Auffassung der psychologischen Voraussetzungen nahe,
als wie sie bei Kalinka zum Ausdruck kommt (ich möchte damit
zugleich den Zweifeln von Vulic begegnen, die bald darauf, auch
gegen die Annahme der dialogischen Form, geäußert wurden,
Wiener Stud. XXXII 1910, 316ff.). Man kann sich gut vorstellen,
daß sich zunächst vor allem der Altersunterschied geltend machte
zwischen der vollerblühten, weltgewandten, vornehmen und im
politischen Leben mitten drin stehenden stadtrömischen Matrona
und dem sie umwerbenden blutjungen, leidenschaftlichen, ganz nur
der Poesie hingegebenen Provinzialen. Ob ganz aus echter Empfin-
dung heraus oder berechnet, oder aber in eine1’ Mischung beider
Möglichkeiten, mag das erste Entgegenkommen Clodias sehr wohl
in einer etwas mütterlich sorgenden Zuneigung sich geäußert haben,
aus welchem Keim alsdann die leidenschaftliche Gegenliebe zu dem
Jugendlichen sich entfaltete. In den Anfängen wird diesem der
erzieherisch fürsorgliche Ton gewiß gar oft eine schmerzende Ent-
täuschung bereitet haben, namentlich wenn die selber in bewegtem
politischen Leben stehende Römerin die Schuld an seinem exsultare
und nimium gestire dem unrömischen otium zu schrieb, dem er
huldigte.
Jedoch diese seine seelische Lage, fand sie nicht ebenso gut wie
das Bekenntnis der alle Sinne verwirrenden Leidenschafl selber
bei der gleichen griechischen Dichterin ihr Gegenbild ? War Clodia
seine Sappho, warum sollte er nicht ihr Alkaios sein, der Werbende
und gleichfalls mit einer etwas erzieherinmäßigen kleinen Straf-
predigt abgewiesene ? Die Tradition darüber war damals in der
literarisch gebildeten Welt, zu welcher Clodia-Lesbia gewiß zählte,
zweifellos wohlbekannt. Ursprünglich war es ein Stück jener alti-
onischen Fabulistik in prosimetrischer Form, die neben andern
Gestalten von Sängern und Weisen besonders auch die lyrischen
Dichter in ihre Kreise zog. Ich verweise auf meine Ausführungen
darüber in Ilbergs Jahrbb. XXIV 1921, 409ff., weil ich glaube,
der dort gezogene Vergleich mit den provenzalischen Razos sollte
etwas mehr beachtet werden ; denn in der Tat ist es nach Form und
Gehalt die gleiche Art, wie da im Stil volkstümlicher Novellistik
irgendwie berühmte Lieder oder Strophen der Troubadours bio-
graphisch gleichsam kommentiert werden. Das Stück vom Wechsel-
gesang zwischen Alkaios und Sappho hatte mit vollem Recht
Maas kurz vorher auf eine solche altionische Sängernovelle zurück-
geführt (Sokrates VIII 1920, 20ff-), wie früher Crusius die noch