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Ernst Hoffmann:
zugunsten von Trugbildern1 abhanden gekommen, sie sieht alle
Werte und Normen verfälscht; daher stammen ihre Affekte,
d. h. ihre Leiden. Sie wird von dieser in der ganzen Menschheit
epidemischen Infektion wieder umso mehr gesunden, je deutlicher
sie aufs neue die Urbilder des Gesollten erschaut. Die Seele ist
erkrankt, also bedarf sie einer Medicina animi durch Philosophie.
Werden die Logosfunken wieder hell, wird die Seele wieder klar,
wird der Mensch zum Sapiens und sein Leben geläutert zur Vita
beata, so wird statt der erworbenen Blindheit das Licht der natür-
lichen Sehkraft wieder hergestellt und somit das Göttliche im Men-
schen erneuert. — Es ist kein Zufall, daß sich die Stoa mit der
Mantik verbindet: Die Gottdurchdrungenheit des Universums
macht die Welt zu einer in sich geschlossenen, in allen Teilen durch
gesetzmäßig wirkende Sympatheia verbundenen Ganzheit. Diese
Ganzheit besteht kraft des vernünftigen Willens des göttlichen
Logos. Sie selber ist das Fatum2. Und äußere Zeichen dieses
seines waltenden und warnenden Willens sind die Kundgebungen,
die er in Vogelflug und anderen durch divinatorische Kunst deut-
baren Manifestationen gibt. -— All dies ist noch nicht Mystik, kann
aber leicht dazu werden. Der Weg zur Mystik ist schon grund-
sätzlich beschritten in jener Forderung der Gottwerdung des
Sapiens, in jenem Streben, die reinen Formen wieder in ihrer ur-
sprünglichen Gestalt in der Seele herzustellen und in dieser so ge-
sundeten Seele dann das Göttliche zu erneuern. Dies ist der Ansatz,
der in unmerklichen wSteigerungen bald zu der Lehre führt, daß die
Seele über sensitive und rationale Erkenntnis hinaus intuitiv in
sich selbst wie in einem Tempel den Logos als ‘Bild Gottes’ erschaue.
Platons ‘Angleichung an Gott’ wurde hier zu einer irdischen Ver-
gottung umgebildet, die umso mehr sich in mystischer Dichtung
bewegen konnte, je näher sie sich mit einer Mantik3 einließ, die
Gottes Spuren aus Gesichten deutete.
1 Cicero, Tusc. III, 1, 2. Die eI'Sy) (psychisch gefaßt) wurden zu ei'SoXoc.
Nachwirkung von Phaed. 66c: to awgoc. . . siScoXcov 7ravTo8oc-<5v xal ©Xuaplac
stxTUg-JuX7)eriv Tjgac; ToXXrjg, cocte to Xeyogsvov coc, äXy]$-«<; tco Övti uV aoToü oÜ8e
cppovrjaca vjplv eyylyvETOCt, ouSotote oÜSev.
2 Boethius, Consol. IV, 6, S. 108 Z. 32 (Peiper): Fatum vero inhaerens
rebus mobilibus dispositio per quam providentia suis quaeque ordinibus. Es
folgt die Motivverschlingung von Fatum und Providentia. — Wirkung auf
das Gebetsleben: Aeneis VI, 376: Desine fata deum flecti sperare precando.
Transformation ins Christliche: Purgator. VI, 29ff.
3 Über das Verhältnis von mantischem, magischem und mystischem
Ernst Hoffmann:
zugunsten von Trugbildern1 abhanden gekommen, sie sieht alle
Werte und Normen verfälscht; daher stammen ihre Affekte,
d. h. ihre Leiden. Sie wird von dieser in der ganzen Menschheit
epidemischen Infektion wieder umso mehr gesunden, je deutlicher
sie aufs neue die Urbilder des Gesollten erschaut. Die Seele ist
erkrankt, also bedarf sie einer Medicina animi durch Philosophie.
Werden die Logosfunken wieder hell, wird die Seele wieder klar,
wird der Mensch zum Sapiens und sein Leben geläutert zur Vita
beata, so wird statt der erworbenen Blindheit das Licht der natür-
lichen Sehkraft wieder hergestellt und somit das Göttliche im Men-
schen erneuert. — Es ist kein Zufall, daß sich die Stoa mit der
Mantik verbindet: Die Gottdurchdrungenheit des Universums
macht die Welt zu einer in sich geschlossenen, in allen Teilen durch
gesetzmäßig wirkende Sympatheia verbundenen Ganzheit. Diese
Ganzheit besteht kraft des vernünftigen Willens des göttlichen
Logos. Sie selber ist das Fatum2. Und äußere Zeichen dieses
seines waltenden und warnenden Willens sind die Kundgebungen,
die er in Vogelflug und anderen durch divinatorische Kunst deut-
baren Manifestationen gibt. -— All dies ist noch nicht Mystik, kann
aber leicht dazu werden. Der Weg zur Mystik ist schon grund-
sätzlich beschritten in jener Forderung der Gottwerdung des
Sapiens, in jenem Streben, die reinen Formen wieder in ihrer ur-
sprünglichen Gestalt in der Seele herzustellen und in dieser so ge-
sundeten Seele dann das Göttliche zu erneuern. Dies ist der Ansatz,
der in unmerklichen wSteigerungen bald zu der Lehre führt, daß die
Seele über sensitive und rationale Erkenntnis hinaus intuitiv in
sich selbst wie in einem Tempel den Logos als ‘Bild Gottes’ erschaue.
Platons ‘Angleichung an Gott’ wurde hier zu einer irdischen Ver-
gottung umgebildet, die umso mehr sich in mystischer Dichtung
bewegen konnte, je näher sie sich mit einer Mantik3 einließ, die
Gottes Spuren aus Gesichten deutete.
1 Cicero, Tusc. III, 1, 2. Die eI'Sy) (psychisch gefaßt) wurden zu ei'SoXoc.
Nachwirkung von Phaed. 66c: to awgoc. . . siScoXcov 7ravTo8oc-<5v xal ©Xuaplac
stxTUg-JuX7)eriv Tjgac; ToXXrjg, cocte to Xeyogsvov coc, äXy]$-«<; tco Övti uV aoToü oÜ8e
cppovrjaca vjplv eyylyvETOCt, ouSotote oÜSev.
2 Boethius, Consol. IV, 6, S. 108 Z. 32 (Peiper): Fatum vero inhaerens
rebus mobilibus dispositio per quam providentia suis quaeque ordinibus. Es
folgt die Motivverschlingung von Fatum und Providentia. — Wirkung auf
das Gebetsleben: Aeneis VI, 376: Desine fata deum flecti sperare precando.
Transformation ins Christliche: Purgator. VI, 29ff.
3 Über das Verhältnis von mantischem, magischem und mystischem