Platonismus und Mystik im Altertum.
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spätantiken Platonismen zu unterscheiden1; die christliche Ein-
stellung zur Zweiweltenlehre wirkte vielmehr entscheidend in Rich-
tung einer immer stärkeren Nivellierung aller jener Weltansichten,
die dem gemeinschaftlichen Lehrtypus 'platonisierender’Metaphysik
beizugesellen waren. Seit Clemens2 war es die Platonische Trans-
essentialität Gottes, seit Augustinus3 war es das Verhältnis der ver-
nünftigen Seele zu dieser Transessentialität, seit Candidus4 war es
die Dialektik dieser Transessentialität, welche die christlichen Den-
ker veranlaßte, Anschluß an Platon und an die niemals abgerissene
Tradition seiner Ideenlogik zu suchen. Hierbei wurde das Verhält-
nis zwischen Gott, vernünftiger Seele und raumzeitlicher Welt
zwar von vielen Christen insofern grundsätzlich Platonisch gefaßt,
als Gott ihnen so hoch über aller Vernunft stand, wie die ver-
nünftige Seele über aller sinnlichen Wirklichkeit. Was aber vom
genuinen Platonismus verloren blieb, das war die urtümliche Seins-
heit der Ideen: Sie war entweder in das Göttliche selbst (als dessen
Funktion) oder in das Seelisch-Vernünftige (als dessen Dynamik)
oder in das Weltgeschehen (als dessen Gesetzlichkeit) hineinverlegt.
Von einem Wiederaufleben genuiner Motive des ursprünglichen
Platonismus könnte daher erst dann die Rede sein, wenn nicht nur
unbedingt die einzige Transessentialität Gottes, sondern neben ihr
ebenso unbedingt die pluralistische Essentialität der Ideen bejaht
wird, d. h. wenn der Begriff der Erkenntnis die reine Seinsheit des
wirklich Seienden mit der autonomen Vielheit des unwandelbar
Wahren identisch setzt, eine Seinsheit, welche notwendig und ewig
bestehen muß ohne die Möglichkeit alteriert zu werden, sei es von
der Welt oder sei es von Gott her. Auf die Überzeugung vom Sein
1 In neuerer Zeit machte, soviel ich weiß, den ersten nennenswerten
Versuch einer kritischen Sichtung Matthieu Souverain, dessen vortreffliches
Buch in zweiter Auflage unter dem Titel 'Versuch über den Platonismus der
Kirchenväter. Oder Untersuchung über den Einfluß der Platonischen Philo-
sophie auf die Dreieinigkeitslehre in den ersten Jahrhunderten5, von J. F. Chr.
Löffler ins Deutsche übersetzt, 1792 in Züllichau und Fraystadt erschien.
Der Name des französischen Autors fehlt auf dem Titelblatt.
2 Vgl. J. Meifort, Der Platonismus bei Clemens Alexandrinus, Tübingen
1928, S. 43ff. Durch transessential soll in diesem Zusammenhänge das farep-
oüciov bezeichnet sein.
3 Über die genauere Tendenz dieses Anschlusses s. F. J. Böhm, Augu-
stinus, Bühl 1930, S. 10ff. (Sonderabdruck Bad. Schulzeitung 1930, Nr. 35
bis 38) und E. Dinkler, Die Anthropologie Augustins, Stuttgart 1934, S. 93ff.
4 Vgl. A. J. Macdonald, Authority and reason in the early middle ages,
Oxford 1933, S. 20ff.
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spätantiken Platonismen zu unterscheiden1; die christliche Ein-
stellung zur Zweiweltenlehre wirkte vielmehr entscheidend in Rich-
tung einer immer stärkeren Nivellierung aller jener Weltansichten,
die dem gemeinschaftlichen Lehrtypus 'platonisierender’Metaphysik
beizugesellen waren. Seit Clemens2 war es die Platonische Trans-
essentialität Gottes, seit Augustinus3 war es das Verhältnis der ver-
nünftigen Seele zu dieser Transessentialität, seit Candidus4 war es
die Dialektik dieser Transessentialität, welche die christlichen Den-
ker veranlaßte, Anschluß an Platon und an die niemals abgerissene
Tradition seiner Ideenlogik zu suchen. Hierbei wurde das Verhält-
nis zwischen Gott, vernünftiger Seele und raumzeitlicher Welt
zwar von vielen Christen insofern grundsätzlich Platonisch gefaßt,
als Gott ihnen so hoch über aller Vernunft stand, wie die ver-
nünftige Seele über aller sinnlichen Wirklichkeit. Was aber vom
genuinen Platonismus verloren blieb, das war die urtümliche Seins-
heit der Ideen: Sie war entweder in das Göttliche selbst (als dessen
Funktion) oder in das Seelisch-Vernünftige (als dessen Dynamik)
oder in das Weltgeschehen (als dessen Gesetzlichkeit) hineinverlegt.
Von einem Wiederaufleben genuiner Motive des ursprünglichen
Platonismus könnte daher erst dann die Rede sein, wenn nicht nur
unbedingt die einzige Transessentialität Gottes, sondern neben ihr
ebenso unbedingt die pluralistische Essentialität der Ideen bejaht
wird, d. h. wenn der Begriff der Erkenntnis die reine Seinsheit des
wirklich Seienden mit der autonomen Vielheit des unwandelbar
Wahren identisch setzt, eine Seinsheit, welche notwendig und ewig
bestehen muß ohne die Möglichkeit alteriert zu werden, sei es von
der Welt oder sei es von Gott her. Auf die Überzeugung vom Sein
1 In neuerer Zeit machte, soviel ich weiß, den ersten nennenswerten
Versuch einer kritischen Sichtung Matthieu Souverain, dessen vortreffliches
Buch in zweiter Auflage unter dem Titel 'Versuch über den Platonismus der
Kirchenväter. Oder Untersuchung über den Einfluß der Platonischen Philo-
sophie auf die Dreieinigkeitslehre in den ersten Jahrhunderten5, von J. F. Chr.
Löffler ins Deutsche übersetzt, 1792 in Züllichau und Fraystadt erschien.
Der Name des französischen Autors fehlt auf dem Titelblatt.
2 Vgl. J. Meifort, Der Platonismus bei Clemens Alexandrinus, Tübingen
1928, S. 43ff. Durch transessential soll in diesem Zusammenhänge das farep-
oüciov bezeichnet sein.
3 Über die genauere Tendenz dieses Anschlusses s. F. J. Böhm, Augu-
stinus, Bühl 1930, S. 10ff. (Sonderabdruck Bad. Schulzeitung 1930, Nr. 35
bis 38) und E. Dinkler, Die Anthropologie Augustins, Stuttgart 1934, S. 93ff.
4 Vgl. A. J. Macdonald, Authority and reason in the early middle ages,
Oxford 1933, S. 20ff.