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Hoffmann, Ernst; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1934/35, 2. Abhandlung): Platonismus und Mystik im Altertum — Heidelberg, 1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.40171#0102
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98

Ernst Hoffmann:

Seele kommt nur vorwärts, wenn sie Pseudo-Erkenntnis hinter
sich läßt; sie muß sich von vermeintlicher Erkenntnis lösen, um
zu wahrer Erkenntnis vorzudringen. Aristoteles aber meint etwas
ganz anderes. Für ihn betrifft die Frage ‘Wie wird aus Sinnes-
empfindung Denkerkenntnis ?’ das Problem der realen Möglich-
keit, steht also auf gleichem Problemniveau wie die Frage ‘Wie
wird aus einem Säugling schließlich ein Mann ?’ Da gibt es keinen
Bruch. Sondern Mögliches wird in stetigem Prozesse wirklich,
Stoff wird Form.
Das Fazit für die Geschichte der Terminologie ist dies: Wie
immer, wird möglichst von Platon die Lehrform übernommen, in
diesem Falle die Vierzahl; von Aristoteles aber die Tendenz, in
diesem Falle die Stetigkeit. Auf solche Weise kommt die Reihe
heraus, die schon Boethius1 und die noch Spinoza hat. Aus der
Konversion des Platonischen Quaternars durch das Aristotelische
Reihenmotiv ergibt sich in den hellenistischen Philosophien eine
Stufenfolge, die späterhin allen christlichen Theorien vom mysti-
schen Aufstieg der Erkenntnis zugrunde liegt; sie gestattet, der
Spitze des Quaternars den Sinn zu geben, daß die Intelligentia
zur intuitiven Visio Dei wird; zugleich aber bleibt der intelligiblen
Höhenlage von Platons Noetik her das Moment verhaftet, daß
letzte Ziele der Vernunft nur ‘Ideen’ sein können. Ohne die
Mitgift dieser Tradition hätte selbst Kant die transzendentale
Dialektik nicht geschrieben2.

X.
Die Berufungen christlicher Väter und Lehrer auf Platon
waren unberührt von jeder Tendenz, .zwischen Platon und den
1 Consolatio V, cap. 4 und 5.
2 Denn für die Geschichte der philosophischen Systemform ergibt
sich mit Sicherheit, daß die systematische Lokalisierung der intelligiblen
Sphäre auch in der Neueren Philosophie durch die platonisierende Tra-
dition bedingt ist, welche von der Mystik gepflegt wurde. Wenn Kant
zwischen Empirismus und Rationalismus 'vermitteln’ wollte, so kann dies
streng genommen nur für die Tr. Ästhetik und Tr. Analytik gelten, denn
sie betreffen Sinnlichkeit und Verstand. Die Tr. Dialektik aber, die zum
Angelpunkt seines ganzen Systems wird, um den allein sich seine neue
Trias der drei Kritiken bewegt, enthält in der Ideenkonzeption ein Mo-
tiv, das nicht auf Synthesis von Erfahrungs- und Verstandesphilosophie
beruht, sondern auf einem Hinausgehen über beide, wde es nur der neu-
zeitliche Platonismus beabsichtigt hatte. Doch der war dogmatisch ge-
blieben; Kant begründet in seiner Ideenlehre den kritischen Platonismus.
 
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