Neue Darstellungen griechischer Sagen: I. Kreta.
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stehen auf dem Deck des Schiffes, das sie dem heimischen Gestade
entführen soll. Während bei anderen Bildwerken, in denen man
eine Schilderung der Sage aus dieser Frühzeit des Griechentums
vermuten zu dürfen glaubte, der Gedanke an Frauenraub immerhin
naheliegen mag1, kann hier der typische Liebesgestus gerade der
Frau an der Art der Beziehung, welche die beiden verbindet, keinen
Zweifel auf kommen lassen. Und jenes Garnknäuel, dem Paar in
rein attributivem Sinne beigegeben, liefert uns den kaum zu wider-
legenden Beweis, daß die Sage von der Errettung aus dem Laby-
rinth jedenfalls schon im achten Jahrhundert vor Christus auf
Kreta feste Gestalt gewonnen hat. Es ist — um früher von uns
Gesagtes2 zu wiederholen — eine alte Geschichte, und im verbliche-
nen Kleiderprunk aus Urväterzeit schickt sich die Heroine zu ihrer
Reise an. Die Heroine bloß ? Von ihrer Krone strahlt, wenn uns
der Schein nicht trügt, immer noch überirdischer Glanz. Das Grie-
chentum hat sich rationalistisch zurechtgelegt und in die Form
einer Erzählung von befreiender Tat und abenteuerlicher Flucht
gebracht, was einst für das religiöse Empfinden eines vorhelleni-
schen Volkes ein Gleichnis symbolisch verklärter Naturvorgänge
war3. Was griechisch aussieht auf der Vase aus Knossos, ist ledig-
lich Firnis, und auch dieses bloß im übertragenen Sinn; denn selbst
dem ,,Firnis“ der hellenischen Keramik, der damals schon in weite-
stem Umkreis sich längst allgemeine Herrschaft errungen, ist dieser
kretische Maler abhold, er wendet ihn nicht an. Und wie in zähem
Trotz bewahrt die stolze Frau eine Haltung zeremonieller Feierlich-
keit, die hier nur mehr als eine letzte blasse Erinnerung an ihr ur-
sprüngliches Wesen und Wirken aufgefaßt werden kann. Erinne-
rung an jene Tage von des minoischen Reiches Herrlichkeit, in
denen die zur Segensfahrt bereite Göttin wirklich noch nichts ande-
res, als solche verehrt und ein Gegenstand gläubiger Andacht war.
Die Ideen, denen Nilsson erst vor kurzem erneut beredten Aus-
druck verliehen hat, sollen hier nicht weiter verfolgt werden. Nur
1 Gemeint sind die geometrische Vase aus Theben, der Krug von Trag-
liatella, die Bronze aus der Idäischen Grotte (oben S. 29). Als „Frauenraub“
wollte Nilsson a. O. 44 Anm. 3 auch die Szene auf dem Tirynther Goldring
deuten, und Wilamowitz, Glaube d. Hell. I 412 stimmte ihm zu.
2 ThuA. 40.
3 Zur Götterfahrt vgl. jetzt das reiche Kapitel über Kultschiffe bei
Almgren, Nordische Felszeichnungen als religiöse Urkunden lff.
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stehen auf dem Deck des Schiffes, das sie dem heimischen Gestade
entführen soll. Während bei anderen Bildwerken, in denen man
eine Schilderung der Sage aus dieser Frühzeit des Griechentums
vermuten zu dürfen glaubte, der Gedanke an Frauenraub immerhin
naheliegen mag1, kann hier der typische Liebesgestus gerade der
Frau an der Art der Beziehung, welche die beiden verbindet, keinen
Zweifel auf kommen lassen. Und jenes Garnknäuel, dem Paar in
rein attributivem Sinne beigegeben, liefert uns den kaum zu wider-
legenden Beweis, daß die Sage von der Errettung aus dem Laby-
rinth jedenfalls schon im achten Jahrhundert vor Christus auf
Kreta feste Gestalt gewonnen hat. Es ist — um früher von uns
Gesagtes2 zu wiederholen — eine alte Geschichte, und im verbliche-
nen Kleiderprunk aus Urväterzeit schickt sich die Heroine zu ihrer
Reise an. Die Heroine bloß ? Von ihrer Krone strahlt, wenn uns
der Schein nicht trügt, immer noch überirdischer Glanz. Das Grie-
chentum hat sich rationalistisch zurechtgelegt und in die Form
einer Erzählung von befreiender Tat und abenteuerlicher Flucht
gebracht, was einst für das religiöse Empfinden eines vorhelleni-
schen Volkes ein Gleichnis symbolisch verklärter Naturvorgänge
war3. Was griechisch aussieht auf der Vase aus Knossos, ist ledig-
lich Firnis, und auch dieses bloß im übertragenen Sinn; denn selbst
dem ,,Firnis“ der hellenischen Keramik, der damals schon in weite-
stem Umkreis sich längst allgemeine Herrschaft errungen, ist dieser
kretische Maler abhold, er wendet ihn nicht an. Und wie in zähem
Trotz bewahrt die stolze Frau eine Haltung zeremonieller Feierlich-
keit, die hier nur mehr als eine letzte blasse Erinnerung an ihr ur-
sprüngliches Wesen und Wirken aufgefaßt werden kann. Erinne-
rung an jene Tage von des minoischen Reiches Herrlichkeit, in
denen die zur Segensfahrt bereite Göttin wirklich noch nichts ande-
res, als solche verehrt und ein Gegenstand gläubiger Andacht war.
Die Ideen, denen Nilsson erst vor kurzem erneut beredten Aus-
druck verliehen hat, sollen hier nicht weiter verfolgt werden. Nur
1 Gemeint sind die geometrische Vase aus Theben, der Krug von Trag-
liatella, die Bronze aus der Idäischen Grotte (oben S. 29). Als „Frauenraub“
wollte Nilsson a. O. 44 Anm. 3 auch die Szene auf dem Tirynther Goldring
deuten, und Wilamowitz, Glaube d. Hell. I 412 stimmte ihm zu.
2 ThuA. 40.
3 Zur Götterfahrt vgl. jetzt das reiche Kapitel über Kultschiffe bei
Almgren, Nordische Felszeichnungen als religiöse Urkunden lff.