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Martin Honecker:
Aber müssen wir denn überhaupt die oben angeführten Brief-
stellen im Sinne einer eigenen Lektüre des griechischen Textes
deuten ? Ist keine andere Auffassung möglich ? — Nun wird auf-
fallen, daß nach dem letzten Satz der Äußerung des Cusanus ge-
rade der griechische Text keine Erklärung nötig haben soll.
Warum wird das nicht auch von der lateinischen Fassung und
erst recht von ihr gesagt, insbesondere von jener, die Cusanus noch
im vorhergehenden Satze so rühmend genannt hat ?
Dieses Rätsel läßt sich vielleicht lösen, wenn man einen anderen
Dionys-Codex heranzieht, der ebenfalls im Besitze des Nikolaus von
Cues gewesen ist. Er liegt im Cod.Cus. 44 vor, der die Opera Dionysii
Areopagitae cum commentario et glossa enthält. Diese Hs., welche
nach einem Vermerk auf Fol. lv vormals dem Bischof Petrus von
Nikotera in Unteritalien99 gehört hat, zeigt eine merkwürdige drei-
fache Texteinteilung. Sie bringt zunächst in größerer Schrift je-
weils einen Abschnitt des Dionys-Textes in lateinischer Überset-
zung. Alsdann folgen in einer Schrift von mittlerer Größe kommen-
tierende Erklärungen100. Am Rande aber stehen Noten in ganz
kleiner Schrift, die unter der Überschrift Ex greco Bemerkungen
zu einzelnen Stellen enthalten; sie beziehen sich auf einzelne
Wörter, ohne aber griechische Ausdrücke zur Erläuterung heran-
zuziehen.
Ist es nun zu gewagt, zu vermuten, Nikolaus von Cues habe
aus diesen Randnoten ex greco die Überzeugung gewonnen, der
griechische Dionystext sei umfangreicher als der lateinische und
eben jene Randnotizen seien den in der lateinischen Übersetzung
vermeintlich weggelassenen Stücken des Urtextes entnommen ?
Entschließt man sich zu dieser Annahme, so hat man eine Erklä-
rung dafür, daß Nikolaus von Cues gerade den griechischen
Text und nur diesen als keiner Erklärung bedürftig betrachtet;
1938), S. 1—35. Der dort gezeichneten Linie könnten auch noch Petrus
Damiani und Robert Holcot eingefügt werden; s. Überwegs
Grundriß der Geschichte der Philosophie, II. Band, 11. Aufl., hrsg. von
Bernh. Geyer (1928), S. 187 f. und 589.
99 f 1415; vgl. Eubel 7 I 366.
100 Übersetzung und Kommentar stammen nicht, wie Marx (28 40)
meinte, aus der Renaissancezeit, sondern nach M. Grab mann (Mittelalter-
liches Geistesleben I, 1926, S. 466, A. 54) von Robert Grosseteste. Ludwig
Baur (Die philosophischen Werke des Robert Grosseteste, Bischofs von Lin-
coln. Beiträge z. Gesell, d. Philos. d. Mittelalters IX, 1912, S. 31*ff.) erwähnt
die Cueser Hs. nicht. — Der Verfasser der Marginalien ex greco ist unbekannt.
Martin Honecker:
Aber müssen wir denn überhaupt die oben angeführten Brief-
stellen im Sinne einer eigenen Lektüre des griechischen Textes
deuten ? Ist keine andere Auffassung möglich ? — Nun wird auf-
fallen, daß nach dem letzten Satz der Äußerung des Cusanus ge-
rade der griechische Text keine Erklärung nötig haben soll.
Warum wird das nicht auch von der lateinischen Fassung und
erst recht von ihr gesagt, insbesondere von jener, die Cusanus noch
im vorhergehenden Satze so rühmend genannt hat ?
Dieses Rätsel läßt sich vielleicht lösen, wenn man einen anderen
Dionys-Codex heranzieht, der ebenfalls im Besitze des Nikolaus von
Cues gewesen ist. Er liegt im Cod.Cus. 44 vor, der die Opera Dionysii
Areopagitae cum commentario et glossa enthält. Diese Hs., welche
nach einem Vermerk auf Fol. lv vormals dem Bischof Petrus von
Nikotera in Unteritalien99 gehört hat, zeigt eine merkwürdige drei-
fache Texteinteilung. Sie bringt zunächst in größerer Schrift je-
weils einen Abschnitt des Dionys-Textes in lateinischer Überset-
zung. Alsdann folgen in einer Schrift von mittlerer Größe kommen-
tierende Erklärungen100. Am Rande aber stehen Noten in ganz
kleiner Schrift, die unter der Überschrift Ex greco Bemerkungen
zu einzelnen Stellen enthalten; sie beziehen sich auf einzelne
Wörter, ohne aber griechische Ausdrücke zur Erläuterung heran-
zuziehen.
Ist es nun zu gewagt, zu vermuten, Nikolaus von Cues habe
aus diesen Randnoten ex greco die Überzeugung gewonnen, der
griechische Dionystext sei umfangreicher als der lateinische und
eben jene Randnotizen seien den in der lateinischen Übersetzung
vermeintlich weggelassenen Stücken des Urtextes entnommen ?
Entschließt man sich zu dieser Annahme, so hat man eine Erklä-
rung dafür, daß Nikolaus von Cues gerade den griechischen
Text und nur diesen als keiner Erklärung bedürftig betrachtet;
1938), S. 1—35. Der dort gezeichneten Linie könnten auch noch Petrus
Damiani und Robert Holcot eingefügt werden; s. Überwegs
Grundriß der Geschichte der Philosophie, II. Band, 11. Aufl., hrsg. von
Bernh. Geyer (1928), S. 187 f. und 589.
99 f 1415; vgl. Eubel 7 I 366.
100 Übersetzung und Kommentar stammen nicht, wie Marx (28 40)
meinte, aus der Renaissancezeit, sondern nach M. Grab mann (Mittelalter-
liches Geistesleben I, 1926, S. 466, A. 54) von Robert Grosseteste. Ludwig
Baur (Die philosophischen Werke des Robert Grosseteste, Bischofs von Lin-
coln. Beiträge z. Gesell, d. Philos. d. Mittelalters IX, 1912, S. 31*ff.) erwähnt
die Cueser Hs. nicht. — Der Verfasser der Marginalien ex greco ist unbekannt.