Cusanus-Studien: II. Nikolaus von Cues und die griechische Sprache. 61
VIII.
Des Cusanus Verhältnis zu Platons Schriften.
Es wäre wahrhaftig fehlgegriffen, wollte jemand glauben, es
sei uns bei unserer Untersuchung darauf angekommen, dem Cu-
saner in schulmeisterlicher Weise eine Zensur im Griechischen zu
erteilen. Worauf unsere Darlegungen hinzielen, ist in der Einlei-
tung gesagt worden. Wollen wir jetzt darauf zurückgreifen, so
dürfen wir sagen: Nach unseren Ermittlungen kann Nikolaus von
Cues nicht imstande gewesen sein, griechische Literatur, insbeson-
dere schwerer verständliche Schriften, im Urtext zu studieren und
zu interpretieren169.
Wenn er sich trotzdem, nur auf Übersetzungen oder gar ledig-
lich auf doxographische Überlieferung angewiesen, ein nicht nur
weitgehendes, sondern auch in den meisten Punkten zutreffendes
Verständnis griechischer Autoren errungen hat170, so ist diese Lei-
stung gerade angesichts des Fehlens einer unmittelbaren Berüh-
rung mit den Quellen umso höher anzuschlagen.
Was uns aber nunmehr nach den Einleitungsbemerkungen vor-
züglich interessiert, ist sein Verhältnis zu Platons Schriften,
auf das zum Schluß noch etwas eingegangen werden soll.
Bezüglich dieser Frage können wir zunächst folgendes fest-
legen:
1. Nikolaus von Cues scheint keinen einzigen griechischen
Platontext besessen zu haben. Denn weder weisen die noch vorhan-
denen Bestände seiner Bücherei, auch wenn wir die von Cues aus
anderswohin gewanderten Hss. berücksichtigen, irgendein Platon-
169 Fast möchte man glauben, Nikolaus von Cues habe seine eigenen
Schwierigkeiten gegenüber griechischen Texten im Auge gehabt, als er in De
genesi (p I 73r, b 133) schrieb: Scriptus Uber videtur (seil, mundus), cuius et
signa et characteres ignorantur, quasi Alemanno graecus quidam Platonis liber
praesentaretur, in quo Plato intellectus sui vires descripsit. Posset enim attente
figuris incumbens Alemannus ex dijjerentia et concordantia characterum con-
iicere aliqua elementa, ex combinationibus variis vocales; sed quidditatem ipsam
in toto vel in parte nequaquam, nisi reveletur eidem.
170 Giovanni Andrea dei Bussi berichtet (Text im Anhang, S. 72,
Z. 63—69), Nikolaus von Cues habe einen schlechten Proklostext, den er be-
saß, dank seines guten Verständnisses derartig zu verbessern vermocht, daß
seine Konjekturen durch einen besseren Text, der später in seine Hände kam,
vollauf bestätigt worden seien. Es handelt sich um den im Cod. Cus. 186
erhaltenen Parmenideskommentar in der Übersetzung des Wilhelm von Moer-
beke (Klibansky 21 26ff.; Grabmann 13 II 417f., 421).
VIII.
Des Cusanus Verhältnis zu Platons Schriften.
Es wäre wahrhaftig fehlgegriffen, wollte jemand glauben, es
sei uns bei unserer Untersuchung darauf angekommen, dem Cu-
saner in schulmeisterlicher Weise eine Zensur im Griechischen zu
erteilen. Worauf unsere Darlegungen hinzielen, ist in der Einlei-
tung gesagt worden. Wollen wir jetzt darauf zurückgreifen, so
dürfen wir sagen: Nach unseren Ermittlungen kann Nikolaus von
Cues nicht imstande gewesen sein, griechische Literatur, insbeson-
dere schwerer verständliche Schriften, im Urtext zu studieren und
zu interpretieren169.
Wenn er sich trotzdem, nur auf Übersetzungen oder gar ledig-
lich auf doxographische Überlieferung angewiesen, ein nicht nur
weitgehendes, sondern auch in den meisten Punkten zutreffendes
Verständnis griechischer Autoren errungen hat170, so ist diese Lei-
stung gerade angesichts des Fehlens einer unmittelbaren Berüh-
rung mit den Quellen umso höher anzuschlagen.
Was uns aber nunmehr nach den Einleitungsbemerkungen vor-
züglich interessiert, ist sein Verhältnis zu Platons Schriften,
auf das zum Schluß noch etwas eingegangen werden soll.
Bezüglich dieser Frage können wir zunächst folgendes fest-
legen:
1. Nikolaus von Cues scheint keinen einzigen griechischen
Platontext besessen zu haben. Denn weder weisen die noch vorhan-
denen Bestände seiner Bücherei, auch wenn wir die von Cues aus
anderswohin gewanderten Hss. berücksichtigen, irgendein Platon-
169 Fast möchte man glauben, Nikolaus von Cues habe seine eigenen
Schwierigkeiten gegenüber griechischen Texten im Auge gehabt, als er in De
genesi (p I 73r, b 133) schrieb: Scriptus Uber videtur (seil, mundus), cuius et
signa et characteres ignorantur, quasi Alemanno graecus quidam Platonis liber
praesentaretur, in quo Plato intellectus sui vires descripsit. Posset enim attente
figuris incumbens Alemannus ex dijjerentia et concordantia characterum con-
iicere aliqua elementa, ex combinationibus variis vocales; sed quidditatem ipsam
in toto vel in parte nequaquam, nisi reveletur eidem.
170 Giovanni Andrea dei Bussi berichtet (Text im Anhang, S. 72,
Z. 63—69), Nikolaus von Cues habe einen schlechten Proklostext, den er be-
saß, dank seines guten Verständnisses derartig zu verbessern vermocht, daß
seine Konjekturen durch einen besseren Text, der später in seine Hände kam,
vollauf bestätigt worden seien. Es handelt sich um den im Cod. Cus. 186
erhaltenen Parmenideskommentar in der Übersetzung des Wilhelm von Moer-
beke (Klibansky 21 26ff.; Grabmann 13 II 417f., 421).