Zweites Kapitel: Literarhistorische Untersuchung. §3. 203
und bist ein Räuber“. Ein grammatisch unmöglicher Satz, aber
wohl ganz richtig wiedergegeben und gerade in der unmittelbaren
Wendung an einen einzelnen wirksam. In dem folgenden Absatz
(n. 23) ist dies rhetorische Mittel in ähnlicher Form wiederholt.
Auch die wiederholt eingestreuten Fragen1 und die sozusagen an
jeden einzelnen Zuhörer gerichteten Ermahnungen2 wirken nicht
formelhaft, sondern ganz lebendig. Und darin dürfte überhaupt
die eigene Bedeutung der Wiener Nachschrift beruhen: sie gibt uns
eine recht gute Vorstellung davon, wie Cusanus sprach, wenn er
sich zum Volk wandte. In dieser Hinsicht lassen uns nicht nur die
lateinischen Entwürfe, sondern auch das deutsche Vaterunser von
Augsburg im Stich. Anderseits reicht der Wiener Text in gedank-
licher Hinsicht nicht entfernt an dieses heran; mit dessen voll-
endeter Architektonik verglichen, wirkt er ärmlich. Das ist aber
natürlich nicht die Schuld des Predigers, sondern des Schreibers.
Wenden wir uns nun endlich zu der Brixener Vaterunser-
Auslegung von 1455, so werden die kurzen Antworten auf die
einzelnen Fragen erst verständlich, wenn man die Augsburger Aus-
legung als Kommentar benutzt. Beispielsweise sei auf die rätsel-
hafte Antwort zu Frage n. 12, 2 (S. 130, 26f.) hingewiesen. An
einzelnen Stellen finden sich auch leichte Selbstkorrekturen, so
wenn 'das Reich’ nicht einfach als der Hl. Geist bezeichnet (vgl.
Pr. XVIII n. 14, S. 40, 15), sondern ihm nur zugeeignet wird
(n. 13, 3, S. 132, 12). Im ganzen kann man aber auch hier von einer
Identität mit der Augsburger Auslegung sprechen.
Das Ergebnis unserer Untersuchung ist also, daß wir es im
Grunde mit einer Vaterunser-Auslegung zu tun haben, nicht mit
vier. Dementsprechend ist auch unser Kommentar unter dem Text
gehalten; er ist unter dem Gesichtspunkt geschrieben, daß Pr. XVIII
den eigentlichen Kern der Edition bildet, während die anderen drei
Stücke auf diese bezogen sind. Ebenso wird in den nachfolgenden Er-
läuterungen verfahren: ihr Gegenstand wird vornehmlich Pr. XVIII
sein. Da sie all das, was die anderen Texte mehr andeutungs- und
einschlußweise besagen, ausführlich erörtert, so werden mit ihr auch
diese verständlich. Ehe wir an diese Aufgabe herangehen, müssen
wir noch einWort über die in den Predigten benutzten Quellen sagen.
1 Vgl. S. 100, 28; 104,10; 108,6; 110,14; 114,19; 116,4.15; 120,12.
2 Vgl. S. 98, 26; 104, 19ff.; 112, 22; 114, lOff. 25ff.; 116, 17 ff. 23ff.
und bist ein Räuber“. Ein grammatisch unmöglicher Satz, aber
wohl ganz richtig wiedergegeben und gerade in der unmittelbaren
Wendung an einen einzelnen wirksam. In dem folgenden Absatz
(n. 23) ist dies rhetorische Mittel in ähnlicher Form wiederholt.
Auch die wiederholt eingestreuten Fragen1 und die sozusagen an
jeden einzelnen Zuhörer gerichteten Ermahnungen2 wirken nicht
formelhaft, sondern ganz lebendig. Und darin dürfte überhaupt
die eigene Bedeutung der Wiener Nachschrift beruhen: sie gibt uns
eine recht gute Vorstellung davon, wie Cusanus sprach, wenn er
sich zum Volk wandte. In dieser Hinsicht lassen uns nicht nur die
lateinischen Entwürfe, sondern auch das deutsche Vaterunser von
Augsburg im Stich. Anderseits reicht der Wiener Text in gedank-
licher Hinsicht nicht entfernt an dieses heran; mit dessen voll-
endeter Architektonik verglichen, wirkt er ärmlich. Das ist aber
natürlich nicht die Schuld des Predigers, sondern des Schreibers.
Wenden wir uns nun endlich zu der Brixener Vaterunser-
Auslegung von 1455, so werden die kurzen Antworten auf die
einzelnen Fragen erst verständlich, wenn man die Augsburger Aus-
legung als Kommentar benutzt. Beispielsweise sei auf die rätsel-
hafte Antwort zu Frage n. 12, 2 (S. 130, 26f.) hingewiesen. An
einzelnen Stellen finden sich auch leichte Selbstkorrekturen, so
wenn 'das Reich’ nicht einfach als der Hl. Geist bezeichnet (vgl.
Pr. XVIII n. 14, S. 40, 15), sondern ihm nur zugeeignet wird
(n. 13, 3, S. 132, 12). Im ganzen kann man aber auch hier von einer
Identität mit der Augsburger Auslegung sprechen.
Das Ergebnis unserer Untersuchung ist also, daß wir es im
Grunde mit einer Vaterunser-Auslegung zu tun haben, nicht mit
vier. Dementsprechend ist auch unser Kommentar unter dem Text
gehalten; er ist unter dem Gesichtspunkt geschrieben, daß Pr. XVIII
den eigentlichen Kern der Edition bildet, während die anderen drei
Stücke auf diese bezogen sind. Ebenso wird in den nachfolgenden Er-
läuterungen verfahren: ihr Gegenstand wird vornehmlich Pr. XVIII
sein. Da sie all das, was die anderen Texte mehr andeutungs- und
einschlußweise besagen, ausführlich erörtert, so werden mit ihr auch
diese verständlich. Ehe wir an diese Aufgabe herangehen, müssen
wir noch einWort über die in den Predigten benutzten Quellen sagen.
1 Vgl. S. 100, 28; 104,10; 108,6; 110,14; 114,19; 116,4.15; 120,12.
2 Vgl. S. 98, 26; 104, 19ff.; 112, 22; 114, lOff. 25ff.; 116, 17 ff. 23ff.