202 J. Koch und H. Teske Cusanus-Texte: I. Predigten, 6.
der Zuhörer, der die Predigt nachschrieb, sie nicht stenographisch
aufgenommen, noch hat er alles richtig verstanden. Hie und da
weist die Nachschrift auch Lücken auf; z. B. bei der Erklärung
der Bitte „Zu uns komme dein Reich“1. Cusanus hat wohl nicht
sogleich gesagt: „Du folt nicht gedenkchen, das daz reich gotz zu
dir körn“, sondern zuerst erklärt, was das Reich ist, so wie er
vorher die Begriffe Vater, Himmel, Name, Heiligen erläutert hatte.
Der großen Linie nach erweist sich die Predigt aber als identisch
mit der Augsburger Auslegung. Selbstverständlich hielt der Kar-
dinal sich nicht sklavisch an sie, vielmehr zeigt auch die unvoll-
kommene Nachschrift, wie er mit seinem geistigen Besitz frei
schaltet und vor allem manches, was dem Verständnis Schwierig-
keiten bereiten konnte, durch Bilder und Gleichnisse erklärt. Wäh-
rend sich in der Augsburger Auslegung wenige Vergleiche finden,
die fast genau so in der Wiener Predigt wiederkehren, begegnen
wir in dieser noch einer ganzen Anzahl von Gleichnissen, die zum
Teil mit der Wendung eingeleitet werden: „Des nim ein ebnpild“2.
Und mit welcher Liebe sind einzelne ausgemalt, wie das Gleichnis
vom Senfkorn oder Mohnkolben (n. 10), von der Arznei (n. 19),
vom Feuerstein (n. 20), vom Licht (n. 21), vom Geleit, das man
auf Reisen braucht (n. 27)! Gerade dieses weitgehende Streben
nach Anschaulichkeit muß man beachten, um davor bewahrt zu
bleiben, die Predigtweise des Cusanus einseitig nach dem Augs-
burger Vaterunser zu beurteilen. Als er dieses niederschreibt, liegt
ihm alles daran, seine künftigen Leser zum Nachdenken zu zwingen;
darum die ständig wiederkehrenden Formeln: 'daraus erkennst du’
oder 'erkenne’ (sieh, beachte, versteh, lerne), die sich auch in seinen
lateinischen Entwürfen finden. Die Nachschrift der Wiener Pre-
digt zeigt aber wenigstens an einzelnen Stellen, wie er sich un-
mittelbar an seine Zuhörer wendet, um sie aufzurütteln und zu
bekehren. So mit dem Satz (n. 12, S. 105): „Du sollst nicht den-
ken, das Reich Gottes komme zu dir. Nein, nicht also!“ Bilde
dir nicht ein, ruft der Prediger der Volksmenge zu, das Reich falle
dir als ein bequemes Geschenk in den Schoß! Die folgenden Sätze
bleiben in diesem Stil unmittelbarer Anrede. Noch eindrucksvoller
ist der Anakoluth in n. 22 (S. 115): „Wer also mehr von Gott
empfangen hat, als er zu seinem Stand bedarf, und es den Armen
und Bedürftigen vorenthält . . . ., dem enthältst du das Seine vor
1 Vgl. S. 104, 18 ff.
2 Vgl. S. 98, 15; 104, 3; 112, 12. 27.
der Zuhörer, der die Predigt nachschrieb, sie nicht stenographisch
aufgenommen, noch hat er alles richtig verstanden. Hie und da
weist die Nachschrift auch Lücken auf; z. B. bei der Erklärung
der Bitte „Zu uns komme dein Reich“1. Cusanus hat wohl nicht
sogleich gesagt: „Du folt nicht gedenkchen, das daz reich gotz zu
dir körn“, sondern zuerst erklärt, was das Reich ist, so wie er
vorher die Begriffe Vater, Himmel, Name, Heiligen erläutert hatte.
Der großen Linie nach erweist sich die Predigt aber als identisch
mit der Augsburger Auslegung. Selbstverständlich hielt der Kar-
dinal sich nicht sklavisch an sie, vielmehr zeigt auch die unvoll-
kommene Nachschrift, wie er mit seinem geistigen Besitz frei
schaltet und vor allem manches, was dem Verständnis Schwierig-
keiten bereiten konnte, durch Bilder und Gleichnisse erklärt. Wäh-
rend sich in der Augsburger Auslegung wenige Vergleiche finden,
die fast genau so in der Wiener Predigt wiederkehren, begegnen
wir in dieser noch einer ganzen Anzahl von Gleichnissen, die zum
Teil mit der Wendung eingeleitet werden: „Des nim ein ebnpild“2.
Und mit welcher Liebe sind einzelne ausgemalt, wie das Gleichnis
vom Senfkorn oder Mohnkolben (n. 10), von der Arznei (n. 19),
vom Feuerstein (n. 20), vom Licht (n. 21), vom Geleit, das man
auf Reisen braucht (n. 27)! Gerade dieses weitgehende Streben
nach Anschaulichkeit muß man beachten, um davor bewahrt zu
bleiben, die Predigtweise des Cusanus einseitig nach dem Augs-
burger Vaterunser zu beurteilen. Als er dieses niederschreibt, liegt
ihm alles daran, seine künftigen Leser zum Nachdenken zu zwingen;
darum die ständig wiederkehrenden Formeln: 'daraus erkennst du’
oder 'erkenne’ (sieh, beachte, versteh, lerne), die sich auch in seinen
lateinischen Entwürfen finden. Die Nachschrift der Wiener Pre-
digt zeigt aber wenigstens an einzelnen Stellen, wie er sich un-
mittelbar an seine Zuhörer wendet, um sie aufzurütteln und zu
bekehren. So mit dem Satz (n. 12, S. 105): „Du sollst nicht den-
ken, das Reich Gottes komme zu dir. Nein, nicht also!“ Bilde
dir nicht ein, ruft der Prediger der Volksmenge zu, das Reich falle
dir als ein bequemes Geschenk in den Schoß! Die folgenden Sätze
bleiben in diesem Stil unmittelbarer Anrede. Noch eindrucksvoller
ist der Anakoluth in n. 22 (S. 115): „Wer also mehr von Gott
empfangen hat, als er zu seinem Stand bedarf, und es den Armen
und Bedürftigen vorenthält . . . ., dem enthältst du das Seine vor
1 Vgl. S. 104, 18 ff.
2 Vgl. S. 98, 15; 104, 3; 112, 12. 27.