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Nikolaus [Hrsg.]; Koch, Josef [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1938/39, 4. Abhandlung): Die Auslegung des Vaterunsers in vier Predigten — Heidelberg, 1940

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https://doi.org/10.11588/diglit.41999#0215
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Drittes Kapitel: Erläuterungen. §2.

215

Man würde damit aber dem Gedanken des Cusanus nicht gerecht;
denn für ihn ist es ja gerade entscheidend, daß die Bitte den Glau-
ben, die Hoffnung und das Verlangen einschließt, und daß diese
drei eine unzertrennliche Einheit bilden. Er denkt hier durchaus
nicht in abstrakten Begriffen, sondern hat den lebendigen Men-
schen, der betet, vor Augen, und ihm erschließt er den tiefen Sinn
der Worte des Vaterunsers. So ist die Verbindung der inhaltlichen
mit der formalen Disposition der zweite Kunstgriff, mit dem Cu-
sanus seine Auslegung lebendig macht: theoretische Spekulationen,
schwierige begriffliche Erörterungen wechseln mit unmittelbaren
Ansprachen an den betenden Menschen ab. Und je weiter die Dar-
stellung fortschreitet, umso deutlicher wird, daß dieser betende
Mensch immer mehr an die Stelle 'des Menschen’ tritt, von dem
Cusanus zunächst ausgeht1. Darum wirken auch die Gebete in
n. 41 und 45 keineswegs pathetisch (im schlechten Sinn dieses
Wortes), sondern durchaus echt; denn sie entsprechen bestimmten
Stufen des religiösen Aufstiegs, auf denen sich der Wanderer zum
Himmel befindet, und für ihn hat Cusanus seine Auslegung ge-
schrieben.

§ 2. Die innere Struktur der Auslegung.
In seiner an feinsinnigen Beobachtungen reichen Schrift „Das
stammhafte Gefüge des Deutschen Volkes“2 nennt Jos. Nadler
den Franken den formbegabtesten unter seinen deutschen Brüdern.
Er schreibt ihm „eine Denkweise von künstlerischer Wesenheit und
religiöser Natur“ zu, „die sich auf die Einheit und Gleichförmig-
keit gründet und auf das Wissen, daß die Sonne nur von einem
sonnenhaften Auge gesehen werden kann. In diesem schauhaften
Vermögen wurzelt die auszeichnende Formbegabung, die dem Fran-
ken eigentümlich ist“. Nadler hätte die Vaterunser-Auslegung
des Cusanus als hervorragendes Beispiel anführen können, statt
den „streitbaren Bischof und Denker“ mit den etwas kümmerlichen
Worten zu kennzeichnen, daß er sich „um die Aufhebung und Ver-
einigung aller denkbaren und wirklichen Gegensätze bemühte“.
Bei der Besprechung der beiden Dispositionen haben wir schon
eine gewisse Ahnung von der Struktur des Werkes gewonnen; nun
wollen wir versuchen, diese Struktur, welche die gedrungene Kraft

1 Vgl. n. 1 S. 24, lOff.
2 München 1934, S. 19; die folgenden Zitate S. 25.
 
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