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Ludwig Baur Cusanus-Texte: III. Marginalien
non potest haberi. Et mihi visum fuit, quod tota ista mystica
theologia sit intrare ipsam infinitatem absolutam. Dicit
enim infinitas contradictoriorum coincidentiam, scilicet
finem sine fine. Et nemo potest Deum mystice videre nisi in caligine
coineidentiae, quae est infinitas.“ In den beiden Schriften De ma-
thematicis complementis (1453—54) und De theologicis comple-
mentis (1453) spinnt Nicolaus dieses Thema weiter.
Aber wie gelangt man zu dieser mystischen Theo-
logie? Ps. Dionysius behandelt diesen Aufstieg bis zur Ekstase, in
MTh I, 1. Er hat dafür die Weisung formuliert ,,άγνωστος άνατά-
β-ητί“ an der Stelle MTh 1, 1 (PG 3, 997b) ,,Σύ δέ, ώ φίλε ΤιμόΕεε,
τη περί τά μυστικά Τεάματα συντόνω διατριβή καί τάς αίσθ-ήσεις άπόλειπε,
καί τάς νοεράς ένεργείας καί πάντα αίσβητά καί τά νοητά, καί πάντα ούκ
οντα καί οντα, καί προς την ενωσιν, ώς εφικτόν, άγνώστως άνα-
τάΤητι του ύπέρ πάσαν ούσίαν καί γνώσιν.“
In der TRAVERSARi-Übersetzung lautet die Stelle: ,,Tu vero Ti-
mothee carissime intentissime contuendi spectaculis mysticis exerci-
tatione et sensus lingue et intellectuales operationes et sensibilia et
intelligibilia omnia et quae non sunt et quae sunt omnia et ut illi
iungaris, qui super omnem substantiam omnemque scientiam est,
ignote pro viribus te ipsum intende.“
Nicolaus gibt diesen Ausdruck teils im Anschluß an die
TRAVERSARi-Übersetzung mit ,,ignote .. . te ipsum intende“
wieder, teils mit „ignote ascendere“, teils mit „ignote consur-
gere“. Es hatte sich unter den Mystikern des 15. Jahrhunderts
eine weitausgesponnene Kontroverse über den eigentlichen Sinn
dieser DionYsius-Stelle erhoben, oder genauer gesagt, über die
Rolle, welche die Erkenntnis und die Liebe in der mystischen Erhe-
bung der Seele zu Gott spielen, über die Frage, ob unsere affektiven
Fähigkeiten sich zu Gott emporheben können, ohne jede voraus-
gehende und begleitende Erkenntnis. Während Johannes Gerson,
der Kanzler der Pariser Universität, unter Berufung auf Diony-
siu s den Anteil des Erkennens an der mystischen Erhebung sichern
wollte und die mystische Theologie unter den Begriff der „Contem-
platio“ subsumierte, verstand der Karthäuser-Mönch Vinzenz
von Aggsbach die Aufforderung zum ignote ascendere im volun-
taristischen Sinn so, daß er, jede Mitwirkung des Geistes ausschlie-
ßend, den bloßen Affekt (per affectum linquendo intellectum), also
die Liebe ohne jede vorausgehende und begleitende Erkenntnis,
für allein zureichend und entscheidend erklärte (Vansteenberghe,
Ludwig Baur Cusanus-Texte: III. Marginalien
non potest haberi. Et mihi visum fuit, quod tota ista mystica
theologia sit intrare ipsam infinitatem absolutam. Dicit
enim infinitas contradictoriorum coincidentiam, scilicet
finem sine fine. Et nemo potest Deum mystice videre nisi in caligine
coineidentiae, quae est infinitas.“ In den beiden Schriften De ma-
thematicis complementis (1453—54) und De theologicis comple-
mentis (1453) spinnt Nicolaus dieses Thema weiter.
Aber wie gelangt man zu dieser mystischen Theo-
logie? Ps. Dionysius behandelt diesen Aufstieg bis zur Ekstase, in
MTh I, 1. Er hat dafür die Weisung formuliert ,,άγνωστος άνατά-
β-ητί“ an der Stelle MTh 1, 1 (PG 3, 997b) ,,Σύ δέ, ώ φίλε ΤιμόΕεε,
τη περί τά μυστικά Τεάματα συντόνω διατριβή καί τάς αίσθ-ήσεις άπόλειπε,
καί τάς νοεράς ένεργείας καί πάντα αίσβητά καί τά νοητά, καί πάντα ούκ
οντα καί οντα, καί προς την ενωσιν, ώς εφικτόν, άγνώστως άνα-
τάΤητι του ύπέρ πάσαν ούσίαν καί γνώσιν.“
In der TRAVERSARi-Übersetzung lautet die Stelle: ,,Tu vero Ti-
mothee carissime intentissime contuendi spectaculis mysticis exerci-
tatione et sensus lingue et intellectuales operationes et sensibilia et
intelligibilia omnia et quae non sunt et quae sunt omnia et ut illi
iungaris, qui super omnem substantiam omnemque scientiam est,
ignote pro viribus te ipsum intende.“
Nicolaus gibt diesen Ausdruck teils im Anschluß an die
TRAVERSARi-Übersetzung mit ,,ignote .. . te ipsum intende“
wieder, teils mit „ignote ascendere“, teils mit „ignote consur-
gere“. Es hatte sich unter den Mystikern des 15. Jahrhunderts
eine weitausgesponnene Kontroverse über den eigentlichen Sinn
dieser DionYsius-Stelle erhoben, oder genauer gesagt, über die
Rolle, welche die Erkenntnis und die Liebe in der mystischen Erhe-
bung der Seele zu Gott spielen, über die Frage, ob unsere affektiven
Fähigkeiten sich zu Gott emporheben können, ohne jede voraus-
gehende und begleitende Erkenntnis. Während Johannes Gerson,
der Kanzler der Pariser Universität, unter Berufung auf Diony-
siu s den Anteil des Erkennens an der mystischen Erhebung sichern
wollte und die mystische Theologie unter den Begriff der „Contem-
platio“ subsumierte, verstand der Karthäuser-Mönch Vinzenz
von Aggsbach die Aufforderung zum ignote ascendere im volun-
taristischen Sinn so, daß er, jede Mitwirkung des Geistes ausschlie-
ßend, den bloßen Affekt (per affectum linquendo intellectum), also
die Liebe ohne jede vorausgehende und begleitende Erkenntnis,
für allein zureichend und entscheidend erklärte (Vansteenberghe,