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Hölscher, Gustav; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1941/42, 3. Abhandlung): Die Anfänge der hebräischen Geschichtsschreibung — Heidelberg, 1942

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https://doi.org/10.11588/diglit.42028#0113
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Geschichte und Idee

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und seine Erinnerung sind Bruchstücke, die das Gedächtnis der
Väter den Kindern und Enkeln bewahrt.
Auch wo, wie im Leben des Hirten und des Ackerbauers, der
Wechsel der Jahreszeiten, der Wurf der Herden und das Wachstum
der Pflanzen, den Ablauf der Zeit gliedert, gibt es nur eine Viel-
heit einzelner Erinnerungen, kein geschlossenes Bild der Vergan-
genheit. Werden und Vergehen, Leben und Tod sind die Mächte,
die das Dasein beherrschen, die sich wechselweise befehden und im
Gleichgewicht halten und denen der Mensch in Glück und Unglück
als den Grenzen seiner Existenz sich beugt.
Geschichte entsteht, wo durch Taten mächtiger Häuptlinge im
Krieg und durch Maßnahmen weiser Führer aus den Blutsgemein-
schaften der Stämme und Geschlechter größere und geordnetere
Formen der Gemeinschaft geschaffen werden. Über die Allgemein-
heit der Stammesgenossen erhebt sich ein Adel, der seine Sonder-
stellung durch Ableitung von den Heroen der Sage begründet und
so durch seinen Stammbaum die Gegenwart mit der Vorzeit ver-
knüpft. Hier gestaltet sich zuerst aus Sage und Erinnerung ein
durch die Generationenfolge gegliedertes Bild der Vergangenheit.
Die ruhmreichen Taten der Mächtigen und Könige, durch die
Staat und Nation entstanden sind, erhalten sich im Gedächtnis und
wecken ein nationales Bewußtsein, welches den Lebenden Vorbild
und Anreiz zum politischen Handeln gibt. Exponent dieses poli-
tischen Willens ist der Volksgott, der die Kriege des Volkes führt
und dessen Macht und Voraussicht seine Geschicke von Anfang an
bestimmt hat. So erwächst aus politisch-religiöser Idee die Vor-
stellung einer Geschichte, die als zielgerichtete Linie gedeutet wird,
bestimmt durch den Willen der Gottheit, gerichtet auf die Größe
der Nation.
Diese politisch-religiöse Idee zerfällt mit der Auflösung des
Volksstaates und der Volksreligion, indem die unmittelbare Be-
ziehung zur Gegenwart schwindet. Sie schwindet, wo sich, wie in
den großen Monarchien des Orients, der Volksstaat zum inter-
nationalen Weltstaat erweitert, und wo wie im neubabylonischen
Reiche eine priesterliche Wissenschaft die Zeitvorstellung wieder
an den zyklischen Verlauf der Natur anknüpft. Aus der Beobach-
tung des Sternlaufes, der schicksalhaft das Geschehen bestimmt,
entsteht die Idee von großen Zeiträumen, in denen in periodischer
Wiederkehr sich der Ablauf der Zeit vollzieht.

8 Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., phil.-hist. Kl. 1941/42. 3. Abh.
 
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