Vom mittelalterlichen Zitieren
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als unsere heutige. Will man einen recht kühnen Sprung machen,
so könnte man sich an jenes Gesetz der Teilhaftigkeit, „loi de parti-
cipation“, erinnert fühlen, das L. Levy-Bruhl in einer ganzen
Reihe von Büchern, am ausführlichsten in ,,Les fonctions mentales
dans les societes inferieures“ 19226 herauszuarbeiten sich bemüht
hat. Es wird gewiß niemandem einfallen, die mittelalterliche Ge-
sellschaft für eine societe inferieure, die mittelalterlichen Menschen
als Primitive zu betrachten, immerhin kann ein Seitenblick auf
die Denkweise der Primitiven vielleicht helfen, die weite Kluft,
die zwischen der modernen und der mittelalterlichen Denkart klafft,
und den Standort der letzteren ein wenig zu erhellen. Wenn in der
„participation mystique“ der Primitiven eine Person, ein Tier, ein
Objekt irgendwelcher Art zugleich es selber ist und nicht ist, in-
dem es zugleich eben auch etwas anderes ist, eine Zweiheit also in
der Einheit und Einheit in der Zweiheit, die für unser Denken un-
vollziehbar ist, so gilt Ähnliches doch auch für die mittelalterliche
Weitsicht. Es ist ja bekannt genug, daß die mittelalterliche Welt
weithin von einer seltsamen Allegorese überzogen ist, in der gleich-
falls das wahrgenommene Objekt es selber und zugleich etwas ande-
res ist. Ist für das Mittelalter doch im wahrsten Sinne alles Ver-
gängliche nur ein Gleichnis, eine Tatsache, der ein paar Freidank -
verse ihren klassischen Ausdruck geben:
Diu erde deheiner slahte treit,
daz gar si äne bezeichenheit;
dehein geschepfede ist so fri,
sin bezeichene anderz denne si si.
D. h.: „Auf der Erde gibt es nichts Erschaffenes, das eines höheren
Sinnes entbehrte; kein Geschöpf ist davon befreit, Wahrzeichen,
Symbol für etwas anderes zu sein als es ist.“ Auch hier also Zwei-
heit in der Einheit, jedes Objekt ist es selber und zugleich etwas
anderes. Sie alle kennen diese Auffassung zum mindesten aus den
Physiologi, die im Mittelalter in griechischer, lateinischer und allen
Vulgärsprachen umliefen und in Wort- und Bildkunst tausendfach
Darstellung fanden. Da ist der Löwe etwa wohl ein Löwe, aber er
ist auch Christus, denn er schläft mit wachen Augen, wie Christus
von sich in den Cantica canticorum sagt: Dormio, sed COT meum vigi-
lat. Da haben Sie gar gleich eine Verknüpfung nach zwei Seiten hin,
indem Christus aus dem alten Testamente zu uns spricht. Denn nicht
bloß die lebende und leblose Natur, sondern auch das geschichtliche
Geschehen wurde von solcher Allegorese ergriffen. Auch die Er-
3 Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., phil.-hist. Kl. 1944/48. 2. Abh.
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als unsere heutige. Will man einen recht kühnen Sprung machen,
so könnte man sich an jenes Gesetz der Teilhaftigkeit, „loi de parti-
cipation“, erinnert fühlen, das L. Levy-Bruhl in einer ganzen
Reihe von Büchern, am ausführlichsten in ,,Les fonctions mentales
dans les societes inferieures“ 19226 herauszuarbeiten sich bemüht
hat. Es wird gewiß niemandem einfallen, die mittelalterliche Ge-
sellschaft für eine societe inferieure, die mittelalterlichen Menschen
als Primitive zu betrachten, immerhin kann ein Seitenblick auf
die Denkweise der Primitiven vielleicht helfen, die weite Kluft,
die zwischen der modernen und der mittelalterlichen Denkart klafft,
und den Standort der letzteren ein wenig zu erhellen. Wenn in der
„participation mystique“ der Primitiven eine Person, ein Tier, ein
Objekt irgendwelcher Art zugleich es selber ist und nicht ist, in-
dem es zugleich eben auch etwas anderes ist, eine Zweiheit also in
der Einheit und Einheit in der Zweiheit, die für unser Denken un-
vollziehbar ist, so gilt Ähnliches doch auch für die mittelalterliche
Weitsicht. Es ist ja bekannt genug, daß die mittelalterliche Welt
weithin von einer seltsamen Allegorese überzogen ist, in der gleich-
falls das wahrgenommene Objekt es selber und zugleich etwas ande-
res ist. Ist für das Mittelalter doch im wahrsten Sinne alles Ver-
gängliche nur ein Gleichnis, eine Tatsache, der ein paar Freidank -
verse ihren klassischen Ausdruck geben:
Diu erde deheiner slahte treit,
daz gar si äne bezeichenheit;
dehein geschepfede ist so fri,
sin bezeichene anderz denne si si.
D. h.: „Auf der Erde gibt es nichts Erschaffenes, das eines höheren
Sinnes entbehrte; kein Geschöpf ist davon befreit, Wahrzeichen,
Symbol für etwas anderes zu sein als es ist.“ Auch hier also Zwei-
heit in der Einheit, jedes Objekt ist es selber und zugleich etwas
anderes. Sie alle kennen diese Auffassung zum mindesten aus den
Physiologi, die im Mittelalter in griechischer, lateinischer und allen
Vulgärsprachen umliefen und in Wort- und Bildkunst tausendfach
Darstellung fanden. Da ist der Löwe etwa wohl ein Löwe, aber er
ist auch Christus, denn er schläft mit wachen Augen, wie Christus
von sich in den Cantica canticorum sagt: Dormio, sed COT meum vigi-
lat. Da haben Sie gar gleich eine Verknüpfung nach zwei Seiten hin,
indem Christus aus dem alten Testamente zu uns spricht. Denn nicht
bloß die lebende und leblose Natur, sondern auch das geschichtliche
Geschehen wurde von solcher Allegorese ergriffen. Auch die Er-
3 Sitzungsberichte d. Heidelb. Akad., phil.-hist. Kl. 1944/48. 2. Abh.