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Bornkamm, Heinrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1965, 1. Abhandlung): Luther als Schriftsteller: vorgelegt am 6. Juni 1964 — Heidelberg, 1965

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https://doi.org/10.11588/diglit.44206#0038
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Heinrich Bornkamm

ihr umgeht, und dadurch steht immer ein Raum nach vorn offen.
„Du kanst nicht zu viel jnn der Schrift lesen, Und was du liesest,
kanstu nicht zu wol lesen, Und was du wol liesest, kanstu nicht zu
wol verstehen, Und was du wol verstehest, kanstu nicht zu wol leren,
Und was du wol lerest, kanstu nicht zu wol leben.“ Je älter er wurde,
um so mehr erschien ihm das Evangelium als ein Geheimnis, und er
begriff die nicht, welche meinten, „es sey kein Mysterium noch tieffe
kunst, sondern ein leffel vol Weisheit, den sie ynn einem schluck
austrincken mögen58.“ In diesem unaufhörlichen Zwiegespräch geht
die Bibel ebenso in ihn ein wie er mit seinem Leben und seiner Welt
in sie. Man darf dieses Verhältnis freilich nicht aus seiner Zu-
ordnung bringen. Es ist zu viel gesagt, „daß der Sprachgewalt Lu-
thers auch das Bibelwort fast zum Stoff wird, den er nach seinem
Geist formt59“ - zu viel nach Luthers eigenem Empfinden wie nach
dem Tatbestand. Er weiß sich nicht nur ganz als den Empfangenden,
sondern er ist es auch, freilich empfangend mit seinem ganzen Sein.
Er findet sich, seine Erfahrungen und die seiner Zeit in der Bibel
nicht historisierend geweissagt, sondern als wahrhaft menschliche
Erfahrungen vorgebildet. Zur rechten Exegese gehört deshalb die
höchste Aufmerksamkeit auf die in der Bibel wirklich geschehene
Geschichte - daher sein heftiger Widerspruch gegen die übliche, auch
von Erasmus betriebene Allegorisierung - wie der offene Blick für
das, was ihm selbst, was Menschen und Völkern in ihrer heutigen
Geschichte begegnet. Die gegenseitige Durchdringung dieser beiden
Wirklichkeiten macht die Eigenart und die Kraft von Luthers Bibel-
auslegungen aus60. Zwei ihrer schönsten mögen als Beispiele ge-
nügen.
58 Vorrede zu Johann Spangenberg, Postilla deutsch (1543) 53; 217, 13. 218, 20ff.,
z. T. abgedruckt bei Paul Hankamer, Die Sprache (1927), 53f.
59 Hankamer, S. 55. Der folgende Satz trifft es besser: „Lebendiges Ergriffen-
werden und Leidenschaft schaffen die Deutung.“ Hankamer kann sich für seine
überlastende Formulierung auch nicht, wie er es tut, auf die geistvolle Schrift
von Franz Rosenzweig, Die Schrift und Luther (1926), S. 8ff., berufen, der
vielmehr auf Luthers höchst interessante Aussagen zu dem fundamentalen
Übersetzungsproblem hinweist: wo man für jedermann verständlich übertragen
und wo man „die Worte steif behalten“ müsse oder, wie Rosenzweig sagt, „wo
das Wort und wo hingegen der Hörer ,in Ruhe gelassen wird1“ (S. 12). Luthers
Beispiel ist Psalm 68, 19, wo er bei der (durch die Vulgata bestimmten) Wen-
dung „Du hast das Gefängnis gefangen“ bleibt, statt verständlicher zu sagen
„die Gefangenen erlöst“. 38; 13, 3ff.
00 Mit dem Interesse an der biblischen Geschichte selbst unterscheidet sich Luther
von der Biblisierung der Zeitgeschichte, wie sie die Puritaner, z. T. auch andere
 
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