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Hampe, Roland; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1967, 1. Abhandlung): Kult der Winde in Athen und Kreta — Heidelberg, 1967

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https://doi.org/10.11588/diglit.44211#0038
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Anhang über Euros und Notos bei Homer

In meiner Schrift „Die Gleichnisse Homers und die Bildkunst sei-
ner Zeit (1952) war ich auf das berühmte Gleichnis vom Sturm bei
Ikaria im zweiten Buch der Ilias eingegangen. Ich schrieb dort:
(S. 7f.): „Ich will kurz schildern, wie ich selber zu der Fragestellung
kam. Es war auf meiner ersten Reise in Griechenland vor nun fast
zwei Jahrzehnten. Die Seefahrt nach Samos führte an der steilen
Felseninsel Ikaria vorüber. Auf der Hinreise war das Wetter heiter,
das Meer fast still gewesen. Am Felsenufer hatten wir Kinder in
griechischer Nacktheit baden sehen. Auf der Rückfahrt jedoch, einige
Wochen später, war der Himmel morgens klar, das Meer nur leicht
bewegt. Als wir uns aber Ikaria näherten, ereignete sich etwas Un-
erwartetes. Urplötzlich verfinsterte sich der Himmel. Ein Wind setzte
ein, der in kurzer Zeit zum Sturm anschwoll, einem Sturme, der nicht
aus einer, sondern von zwei Seiten auf das Meer einfiel, vom Süd-
osten und Südwesten zugleich. Immer längere Wogen rollten über
die Meeresweiten heran, immer höher türmten sie sich, gegenein-
andergetrieben, auf. Das Schiff kam lange Zeit nicht von der Stelle.
Es hatte alle Mühe, sich gegen die Gewalt der Elemente zu behaup-
ten. Erst nach Stunden konnten wir die Felseninsel hinter uns lassen.
Damals war mir Homer gegenwärtig. Wie anschaulich hatte er
doch in einem seiner Gleichnisse gerade diesen Sturm von Ikaria ge-
schildert. In allen Einzelheiten des Naturschauspiels, das ich miter-
lebte, fühlte ich mich an seine so lebendige Schilderung erinnert. Erst
eine Weile später machte ich mich daran, diese Stelle wieder einmal
im Text der Ilias nachzulesen. Ich muß gestehen, ich war erstaunt, ja
fast erschrocken. Denn ich fand dort keineswegs das anschauliche
Naturgemälde, das ich in Erinnerung hatte. Dort heißt es vielmehr
(2, 144—146): ,Da geriet die Volksversammlung in Bewegung wie die
langen Wogen des Meeres auf der See von Ikaria, die der Südost-
und der Südwestwind, daherstürmend aus den Wolken des Vaters
Zeus, zugleich erregen? Das ist alles. Knapper konnte der Vorgang-
nicht dargestellt werden. Das einzige Beiwort in diesem Gleichnis,
die ,langen' Wogen, ist nicht einmal ein ausschmückendes sondern
einfach sachliche Aussage. Während es das Kennzeichen naturalisti-
 
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