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Hildebrecht Hommel
Die persona certa, das ist in unserem Hymnus Cicero selber mit
seinem konkreten individuellen Anliegen. Zwischen quaestio {gene-
ralis} und causa {specialis} hat er in kunstvoller Weise das Gebet des
Schutzsuchenden an die Philosophia (B) eingeschaltet, das sich for-
mal mit seinen Anaphern des flektierten Personalpronomens glatt
an die /w-Anaphern der Aretalogie (A 2) anschließt, während es in-
haltlich als individuelle Hinwendung zur angerufenen Gottheit vor-
trefflich zur causa = quaestio specialis überleitet.
Diese ihrem Charakter nach also ebenfalls individuell gefärbte
'Hypothesis’ (C) scheint zunächst eine gewisse Schwierigkeit zu be-
reiten; denn sie setzt mit einer Formulierung ein (C 1), die ihrerseits
wieder ganz allgemein gehalten ist10, ohne den erwarteten mehr in-
dividuellen Charakter klar zu verraten. Der zeichnet erst den fol-
genden in eine rhetorische Frage gekleideten Schlußsatz (C 2) mit
einiger Deutlichkeit aus, wie wir bereits beobachtet hatten. Das zu-
nächst befremdliche C 1 ist aber auch innerhalb des rednerischen
Schemas ein ganz legitimer Bestandteil; er stellt eine notwendig
generalisierende „Sentenz“ oder γνώμη11 dar, deren Erscheinen in
der Quaestio specialis uns daher keineswegs stutzig machen darf.
Denn sie ist - in rhetorischer Verwendung12 - ihrem Wesen nach
tiones 61 ff. (vgl. a. schon 8 f.) auf die Lehre von den quaestiones zurück (was
bei Lausberg I 62ff. und bei D. Matthes a. 0. nachzutragen wäre); da heißt es
§ 61 duo sunt . . . quaestionum genera: quorum alterum, finitum temporibus et
personis, causam appello, alterum infinitum, nullis neque personis neque tem-
poribus notatum, propositum voco (womit wir einen weiteren Terminus für die
quaestio generalis kennen lernen).
10 Immerhin wird sie mit ihrem peccanti {immortalitati} den aufmerksamen Leser
an das vitiorum peccatorumque nostrorum der vorangehenden Einleitung (§ 5
Anfg.) erinnern, bei dem der individuelle Bezug über jeden Zweifel erhaben
ist (dazu vgl. a. ob. S. 10, Anm. 5). Ähnlich schon 0. Weinreich 1958.
11 Bereits beobachtet von 0. Weinreich 1922, S. 505, und 1958, wo mit den bei-
gebrachten Parallelen aus der Psalmendichtung und der antiken Liebespoesie
doch auch bereits ein individueller Einschlag deutlich wird. Wolfg. Schmid 14
m. Anm. 3 hat unter Hinweis auf Ed. Norden, Antike Kunstprosa I 280 f. den
Klauselcharakter der Sentenz (lumen bzw. fulmen in clausula} betonen wollen
(vgl. dazu auch Lausberg I S. 433 f.: epiphonema nach Quintil., Inst. or. VIII
5, 11). Aber es liegt ja in unserem Beispiel gar keine Schlußstellung im strengen
Sinn vor, da der Sentenz noch ein gewichtiger Satz folgt; s. dazu weiterhin im
Text.
12 Aber auch sonst ähnlich, z. B. in der griechischen Lyrik, nach Br. Snells Defi-
nition, Die Entstehung des Geistes 1946 (u. ö.), S. 58: „Die Sentenz knüpft das
Einzelne an das Allgemeine, oft in mahnender oder belehrender Form, und lenkt
so in rationalerer Form auf das Beständige, auf die Wahrheit.“
Hildebrecht Hommel
Die persona certa, das ist in unserem Hymnus Cicero selber mit
seinem konkreten individuellen Anliegen. Zwischen quaestio {gene-
ralis} und causa {specialis} hat er in kunstvoller Weise das Gebet des
Schutzsuchenden an die Philosophia (B) eingeschaltet, das sich for-
mal mit seinen Anaphern des flektierten Personalpronomens glatt
an die /w-Anaphern der Aretalogie (A 2) anschließt, während es in-
haltlich als individuelle Hinwendung zur angerufenen Gottheit vor-
trefflich zur causa = quaestio specialis überleitet.
Diese ihrem Charakter nach also ebenfalls individuell gefärbte
'Hypothesis’ (C) scheint zunächst eine gewisse Schwierigkeit zu be-
reiten; denn sie setzt mit einer Formulierung ein (C 1), die ihrerseits
wieder ganz allgemein gehalten ist10, ohne den erwarteten mehr in-
dividuellen Charakter klar zu verraten. Der zeichnet erst den fol-
genden in eine rhetorische Frage gekleideten Schlußsatz (C 2) mit
einiger Deutlichkeit aus, wie wir bereits beobachtet hatten. Das zu-
nächst befremdliche C 1 ist aber auch innerhalb des rednerischen
Schemas ein ganz legitimer Bestandteil; er stellt eine notwendig
generalisierende „Sentenz“ oder γνώμη11 dar, deren Erscheinen in
der Quaestio specialis uns daher keineswegs stutzig machen darf.
Denn sie ist - in rhetorischer Verwendung12 - ihrem Wesen nach
tiones 61 ff. (vgl. a. schon 8 f.) auf die Lehre von den quaestiones zurück (was
bei Lausberg I 62ff. und bei D. Matthes a. 0. nachzutragen wäre); da heißt es
§ 61 duo sunt . . . quaestionum genera: quorum alterum, finitum temporibus et
personis, causam appello, alterum infinitum, nullis neque personis neque tem-
poribus notatum, propositum voco (womit wir einen weiteren Terminus für die
quaestio generalis kennen lernen).
10 Immerhin wird sie mit ihrem peccanti {immortalitati} den aufmerksamen Leser
an das vitiorum peccatorumque nostrorum der vorangehenden Einleitung (§ 5
Anfg.) erinnern, bei dem der individuelle Bezug über jeden Zweifel erhaben
ist (dazu vgl. a. ob. S. 10, Anm. 5). Ähnlich schon 0. Weinreich 1958.
11 Bereits beobachtet von 0. Weinreich 1922, S. 505, und 1958, wo mit den bei-
gebrachten Parallelen aus der Psalmendichtung und der antiken Liebespoesie
doch auch bereits ein individueller Einschlag deutlich wird. Wolfg. Schmid 14
m. Anm. 3 hat unter Hinweis auf Ed. Norden, Antike Kunstprosa I 280 f. den
Klauselcharakter der Sentenz (lumen bzw. fulmen in clausula} betonen wollen
(vgl. dazu auch Lausberg I S. 433 f.: epiphonema nach Quintil., Inst. or. VIII
5, 11). Aber es liegt ja in unserem Beispiel gar keine Schlußstellung im strengen
Sinn vor, da der Sentenz noch ein gewichtiger Satz folgt; s. dazu weiterhin im
Text.
12 Aber auch sonst ähnlich, z. B. in der griechischen Lyrik, nach Br. Snells Defi-
nition, Die Entstehung des Geistes 1946 (u. ö.), S. 58: „Die Sentenz knüpft das
Einzelne an das Allgemeine, oft in mahnender oder belehrender Form, und lenkt
so in rationalerer Form auf das Beständige, auf die Wahrheit.“