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Erich Köhler
andeutet, obgleich sein ganzer Zorn sich gegen den Stiefsohn rich-
tet44. Zwar ist es im Mittelalter durchweg die Regel, für Gesandt-
schaften nur Leute auszuwählen, die neben der persönlichen Eig-
nung wichtige Ämter innehaben, dem höheren Adel angehören und
obendrein reich sind45. Auf die überall streng beachtete Immunität
aber, die ihre Person schützte, durfte im Falle der Gesandtschaft
nach Saragossa nicht gezählt werden. Ganelon ist nicht nur der
Schwager des Kaisers, sondern hoher und mächtiger Vasall des
Reichs, der lange am Königshof geweilt hat. Der Dichter hebt diese
Eigenschaften mehrfach hervor46. Ganelons eigene Vasallen und Rit-
ter, welche die Fehdeansage ihres Herrn billigen, sehen die Ver-
werflichkeit von Rolands jugement darin, daß es keine Rücksicht auf
Rang und Geschlecht nimmt: , Λ Ί .
σ «1 ant mare fustes, ber!
En (la) cort al rei mult i avez ested,
Noble vassal vos i solt hom clamer.
Kl ςο jugat que doüsez aler,
Par Charlemagne n ert guariz ne tensez.
Li quens Rollanz nel se deüst penser,
Que estrait estes de mult grant parented.» (v. 350 ff.)
Erschwerend kommt hinzu, daß der fast sichere Tod Ganelons
seinen Lehensbesitz gefährdet, den die Frau und der minderjährige
Sohn allein nicht zu bewahren vermöchten. Daher der Appell, den
Ganelon zum Schutz seiner Familie an den Kaiser richtet (Laisse 23)
und den dieser mit dem Vorwurf beantwortet: «Trop avez tendre
coer» (v. 317), daher auch die eindringliche Bitte an seine Ritter,
seine Frau, seinen Sohn und seinen Freund und «per» Pinabel zu
grüßen und Balduin, seinen Erben, als Herrn anzuerkennen und ihm
Beistand zu leisten (Laisse 27)47. Daß der Beschluß, einen für Fa-
44 «Jo i puis aler, mais ni avrai guarant;
Nul [ri] out Basilies ne sis freres Basant». (v. 329f.)
45 Wir dürfen uns hier auf eine im Historischen Seminar Heidelberg in Arbeit
befindliche Dissertation über das mittelalterliche Gesandtschaftswesen berufen,
deren Verfasser, Herrn Norbert Bitz, wir interessante Hinweise verdanken.
46 Siehe v. 351 ff., v. 421f., v. 446, v. 3811. Ganelon kann nur durch ein Gericht
verurteilt werden, das sich aus den Großvasallen des Reiches zusammensetzt,
seinen «pares».
47 Vgl. hierzu zuletzt: Leslie C. Brook, Le «forfait» de Roland dans le proces de
Ganelon: encore sur un vers obscur de la «Chanson de Roland», Vortrag ge-
halten beim IV. Internationalen Kongreß der Societe Rencesvals in Heidelberg
1967, zurzeit im Druck (Studia Romanica, Heidelberg 1968). —
Befürchtet Ganelon, daß Roland, der Stiefsohn, danach trachtet, dem leib-
lichen Sohn Ganelons, Balduin, das Erbe zu entreißen und daß er deshalb den
Erich Köhler
andeutet, obgleich sein ganzer Zorn sich gegen den Stiefsohn rich-
tet44. Zwar ist es im Mittelalter durchweg die Regel, für Gesandt-
schaften nur Leute auszuwählen, die neben der persönlichen Eig-
nung wichtige Ämter innehaben, dem höheren Adel angehören und
obendrein reich sind45. Auf die überall streng beachtete Immunität
aber, die ihre Person schützte, durfte im Falle der Gesandtschaft
nach Saragossa nicht gezählt werden. Ganelon ist nicht nur der
Schwager des Kaisers, sondern hoher und mächtiger Vasall des
Reichs, der lange am Königshof geweilt hat. Der Dichter hebt diese
Eigenschaften mehrfach hervor46. Ganelons eigene Vasallen und Rit-
ter, welche die Fehdeansage ihres Herrn billigen, sehen die Ver-
werflichkeit von Rolands jugement darin, daß es keine Rücksicht auf
Rang und Geschlecht nimmt: , Λ Ί .
σ «1 ant mare fustes, ber!
En (la) cort al rei mult i avez ested,
Noble vassal vos i solt hom clamer.
Kl ςο jugat que doüsez aler,
Par Charlemagne n ert guariz ne tensez.
Li quens Rollanz nel se deüst penser,
Que estrait estes de mult grant parented.» (v. 350 ff.)
Erschwerend kommt hinzu, daß der fast sichere Tod Ganelons
seinen Lehensbesitz gefährdet, den die Frau und der minderjährige
Sohn allein nicht zu bewahren vermöchten. Daher der Appell, den
Ganelon zum Schutz seiner Familie an den Kaiser richtet (Laisse 23)
und den dieser mit dem Vorwurf beantwortet: «Trop avez tendre
coer» (v. 317), daher auch die eindringliche Bitte an seine Ritter,
seine Frau, seinen Sohn und seinen Freund und «per» Pinabel zu
grüßen und Balduin, seinen Erben, als Herrn anzuerkennen und ihm
Beistand zu leisten (Laisse 27)47. Daß der Beschluß, einen für Fa-
44 «Jo i puis aler, mais ni avrai guarant;
Nul [ri] out Basilies ne sis freres Basant». (v. 329f.)
45 Wir dürfen uns hier auf eine im Historischen Seminar Heidelberg in Arbeit
befindliche Dissertation über das mittelalterliche Gesandtschaftswesen berufen,
deren Verfasser, Herrn Norbert Bitz, wir interessante Hinweise verdanken.
46 Siehe v. 351 ff., v. 421f., v. 446, v. 3811. Ganelon kann nur durch ein Gericht
verurteilt werden, das sich aus den Großvasallen des Reiches zusammensetzt,
seinen «pares».
47 Vgl. hierzu zuletzt: Leslie C. Brook, Le «forfait» de Roland dans le proces de
Ganelon: encore sur un vers obscur de la «Chanson de Roland», Vortrag ge-
halten beim IV. Internationalen Kongreß der Societe Rencesvals in Heidelberg
1967, zurzeit im Druck (Studia Romanica, Heidelberg 1968). —
Befürchtet Ganelon, daß Roland, der Stiefsohn, danach trachtet, dem leib-
lichen Sohn Ganelons, Balduin, das Erbe zu entreißen und daß er deshalb den