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Erich Köhler
Die Hilflosigkeit des doch durch einen Traum gewarnten Kaisers
in dieser Szene hat der Rolandforschung viel Kopfzerbrechen be-
reitet. So erschien es E. Auerbach «rätselhaft, daß der Kaiser, ohne
für eine ihm genehme Lösung Vorsorge getroffen zu haben, sich
durch seine Aufforderung zur Wahl in eine Lage begibt, aus der er
keinen Ausweg weiß»62. A. Pauphilet glaubt die Lösung zu kennen:
ein Wort des Kaisers hätte genügt, um den tückischen Plan Gane-
lons zum Scheitern zu bringen, aber dann käme keine Handlung zu-
stande. Karl muß als Führer der Christenheit mit aller Überlegen-
heit und Machtfülle ausgestattet sein, aber Anwandlungen von
Schwäche haben, sonst gäbe es kein Rolandslied63. Die Logik er-
schiene entwaffnend, wäre die «petitio principii» nicht evident. Ge-
wiß ist es kein Leichtes für Charlemagne, der Auserwählte Gottes
zu sein. Wer ihn seufzen, weinen und am Barte ziehen hört und sieht,
als der Erzengel Gabriel de pari Den ihn nach sieben Jahren Krieg
in Spanien am Schluß unserer Chanson erneut zum Kampf gegen
die Heiden aufruft, der kann nur Mitgefühl für den obersten Funk-
tionär der Fleilsgeschichte empfinden64. Das providentielle Gesche-
hen aber, das die ganze Handlung durchdringt, bedient sich, von
gelegentlichen übernatürlichen Eingriffen abgesehen, zu seinem
Vollzug durchaus der Wesensmomente der geschichtlichen Wirklich-
keit selbst. Von dieser List der heilsgeschichtlichen Vernunft wußte
der Dichter des Rolandslieds mehr als seine modernen Interpreten.
Karls Ohnmacht im kritischen Augenblick der Handlung ist weder
«rätselhaft» noch kann sie aus einem epischen Sujet abgeleitet wer-
den, das als solches selbst erst der Erklärung bedarf.
Der Charlemagne der Chanson de Roland setzt sich aus zwei Per-
sonen zusammen: er ist einerseits der historische Karl der Große,
der mächtige Flerrscher, so wie er war und mehr noch wie der Dich-
ter ihn seinen Zeitgenossen als Ideal vorstellte, und andererseits zu-
gleich, in die Gegenwart der Dichtung versetzt, der machtlose kape-
62 E. Auerbach, a. a. 0., S. 98.
63 «II n’etait pas possible que l’empereur assistät impuissant et aveugde ä des
evenements de tant de consequences; mais il ne fallait pas non plus qu’il füt
trop informe ou trop imperieux: un mot de lui suffisait pour detruire la ma-
chination de Ganelon ... et le sujet meme du poeme. II fallait que la trahison
reussit sans que ni la clairvoyance ni l’autorite de l’empereur en souffrit»
(Pauphilet, a. a. 0., S. 78).
64 Li emperere ni volsist aler mie:
«Deus!» dist li reis, «si penuse est ma vie!»
Pluret des oilz, sa barbe blanche tiret... (v. 3999ff.).
Erich Köhler
Die Hilflosigkeit des doch durch einen Traum gewarnten Kaisers
in dieser Szene hat der Rolandforschung viel Kopfzerbrechen be-
reitet. So erschien es E. Auerbach «rätselhaft, daß der Kaiser, ohne
für eine ihm genehme Lösung Vorsorge getroffen zu haben, sich
durch seine Aufforderung zur Wahl in eine Lage begibt, aus der er
keinen Ausweg weiß»62. A. Pauphilet glaubt die Lösung zu kennen:
ein Wort des Kaisers hätte genügt, um den tückischen Plan Gane-
lons zum Scheitern zu bringen, aber dann käme keine Handlung zu-
stande. Karl muß als Führer der Christenheit mit aller Überlegen-
heit und Machtfülle ausgestattet sein, aber Anwandlungen von
Schwäche haben, sonst gäbe es kein Rolandslied63. Die Logik er-
schiene entwaffnend, wäre die «petitio principii» nicht evident. Ge-
wiß ist es kein Leichtes für Charlemagne, der Auserwählte Gottes
zu sein. Wer ihn seufzen, weinen und am Barte ziehen hört und sieht,
als der Erzengel Gabriel de pari Den ihn nach sieben Jahren Krieg
in Spanien am Schluß unserer Chanson erneut zum Kampf gegen
die Heiden aufruft, der kann nur Mitgefühl für den obersten Funk-
tionär der Fleilsgeschichte empfinden64. Das providentielle Gesche-
hen aber, das die ganze Handlung durchdringt, bedient sich, von
gelegentlichen übernatürlichen Eingriffen abgesehen, zu seinem
Vollzug durchaus der Wesensmomente der geschichtlichen Wirklich-
keit selbst. Von dieser List der heilsgeschichtlichen Vernunft wußte
der Dichter des Rolandslieds mehr als seine modernen Interpreten.
Karls Ohnmacht im kritischen Augenblick der Handlung ist weder
«rätselhaft» noch kann sie aus einem epischen Sujet abgeleitet wer-
den, das als solches selbst erst der Erklärung bedarf.
Der Charlemagne der Chanson de Roland setzt sich aus zwei Per-
sonen zusammen: er ist einerseits der historische Karl der Große,
der mächtige Flerrscher, so wie er war und mehr noch wie der Dich-
ter ihn seinen Zeitgenossen als Ideal vorstellte, und andererseits zu-
gleich, in die Gegenwart der Dichtung versetzt, der machtlose kape-
62 E. Auerbach, a. a. 0., S. 98.
63 «II n’etait pas possible que l’empereur assistät impuissant et aveugde ä des
evenements de tant de consequences; mais il ne fallait pas non plus qu’il füt
trop informe ou trop imperieux: un mot de lui suffisait pour detruire la ma-
chination de Ganelon ... et le sujet meme du poeme. II fallait que la trahison
reussit sans que ni la clairvoyance ni l’autorite de l’empereur en souffrit»
(Pauphilet, a. a. 0., S. 78).
64 Li emperere ni volsist aler mie:
«Deus!» dist li reis, «si penuse est ma vie!»
Pluret des oilz, sa barbe blanche tiret... (v. 3999ff.).