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Erich Köhler
düng»80. Nur kraft einer geschickt taktierenden, trotz aller Rück-
schläge beharrlichen, die Möglichkeiten des Rechts bis zu dessen
Mißbrauch und Verfälschung nutzenden Politik konnte das König-
tum sich schließlich durchsetzen. Kenntnis des Formalrechts war ent-
scheidend, moralischer Skrupel eher schädlich.
Wir haben uns bemüht herauszuarbeiten, in welch hohem Grade
Charlemagne parteilich handelt und ohne Rücksicht auf die Schutz-
pflicht gegenüber dem Vasallen das Verfahren beeinflußt. So sittlich
schön und befriedigend es wäre, den christlichen Universalherrscher
einen souveränen Standpunkt über den Parteien, über dem Kon-
flikt Roland - Ganelon einnehmen zu sehen - es wäre damit Un-
mögliches verlangt. Denn Karl kann nicht, oder doch nur zum Schein,
neutral sein. Schon der historische Karl hätte es nicht gekonnt,
denn nie war er «rex legibus solutus», und der König des 11. Jahr-
hunderts schon gar nicht. Die souveräne Attitüde des Darüberstehens
kann sich lediglich auf die formale Anerkennung des jugement des
barons stützen. In Wahrheit vermag der Charlemagne unserer
Chanson als Herrscher des Reichs sich nur zu behaupten, wenn er
als Herr von Franzien konsequente Hausmachtpolitik betreibt und
sich dazu des Lehnrechts bedient, wo immer dieses eine Handhabe
bietet. Der generöse Gestus des bereitwilligen Eingehens auf das
Entscheidungsrecht der Vasallen hat die Doppeldeutigkeit jener
Formel, die besagt, daß man damit «Staat machen» kann. Für uns
geht es darum, dem Schein nicht zu verfallen und doch seine politi-
sche Effizienz wahrzunehmen. Die semantische Unklarheit im Ge-
brauch von Francs, Franceis und France, zwischen dem fränkisch-
karolingischen Großreich, dem tatsächlichen Lehnsbereich des 11.
Jahrhunderts, und der Ile de France als Königsdomäne schwankend,
verrät universalen Anspruch und Realität des frühkapetingischen
Königtums in einem. Charlemagnes «Idealität» schließt die prag-
matische Politik der kapetingischen Könige und deren Risiken mit
ein. Diese Ambivalenz der Idealität des Königtums zu demonstrie-
ren und aus dem ihr realiter innewohnenden Widerspruch die fatale
epische Handlung zwingend hervorgehen zu lassen, ist die erste und
wichtigste Funktion der Ratsszenen. Damit wird aber auch die Ur-
sache jener Kombination von jugement des barons und conseil des
barons einsichtig, in der wir die gewagteste Erfindung des Dichters
erkannten.
80 Lehnrecht und Staatsgewalt, S. 322f.
Erich Köhler
düng»80. Nur kraft einer geschickt taktierenden, trotz aller Rück-
schläge beharrlichen, die Möglichkeiten des Rechts bis zu dessen
Mißbrauch und Verfälschung nutzenden Politik konnte das König-
tum sich schließlich durchsetzen. Kenntnis des Formalrechts war ent-
scheidend, moralischer Skrupel eher schädlich.
Wir haben uns bemüht herauszuarbeiten, in welch hohem Grade
Charlemagne parteilich handelt und ohne Rücksicht auf die Schutz-
pflicht gegenüber dem Vasallen das Verfahren beeinflußt. So sittlich
schön und befriedigend es wäre, den christlichen Universalherrscher
einen souveränen Standpunkt über den Parteien, über dem Kon-
flikt Roland - Ganelon einnehmen zu sehen - es wäre damit Un-
mögliches verlangt. Denn Karl kann nicht, oder doch nur zum Schein,
neutral sein. Schon der historische Karl hätte es nicht gekonnt,
denn nie war er «rex legibus solutus», und der König des 11. Jahr-
hunderts schon gar nicht. Die souveräne Attitüde des Darüberstehens
kann sich lediglich auf die formale Anerkennung des jugement des
barons stützen. In Wahrheit vermag der Charlemagne unserer
Chanson als Herrscher des Reichs sich nur zu behaupten, wenn er
als Herr von Franzien konsequente Hausmachtpolitik betreibt und
sich dazu des Lehnrechts bedient, wo immer dieses eine Handhabe
bietet. Der generöse Gestus des bereitwilligen Eingehens auf das
Entscheidungsrecht der Vasallen hat die Doppeldeutigkeit jener
Formel, die besagt, daß man damit «Staat machen» kann. Für uns
geht es darum, dem Schein nicht zu verfallen und doch seine politi-
sche Effizienz wahrzunehmen. Die semantische Unklarheit im Ge-
brauch von Francs, Franceis und France, zwischen dem fränkisch-
karolingischen Großreich, dem tatsächlichen Lehnsbereich des 11.
Jahrhunderts, und der Ile de France als Königsdomäne schwankend,
verrät universalen Anspruch und Realität des frühkapetingischen
Königtums in einem. Charlemagnes «Idealität» schließt die prag-
matische Politik der kapetingischen Könige und deren Risiken mit
ein. Diese Ambivalenz der Idealität des Königtums zu demonstrie-
ren und aus dem ihr realiter innewohnenden Widerspruch die fatale
epische Handlung zwingend hervorgehen zu lassen, ist die erste und
wichtigste Funktion der Ratsszenen. Damit wird aber auch die Ur-
sache jener Kombination von jugement des barons und conseil des
barons einsichtig, in der wir die gewagteste Erfindung des Dichters
erkannten.
80 Lehnrecht und Staatsgewalt, S. 322f.