Der Epitaphios des Perikies
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in der Einleitung. Der feierlichen, gesetzmäßigen Ausrichtung der
Totenfeier und der Bestellung einer Epitaphienrede steht die ur-
sprüngliche Gewalt der unerwartet hereingebrochenen Seuche gegen-
über (48, 2: eg Ö8 rpv ’AUpvalcov aoXiv egajuvalajg eveaeoe), die alle
menschlichen Berechnungen über den Haufen wirft und darüber
hinaus die Grundlagen der im Epitaphios gepriesenen Gesittung er-
schüttert. Denn nun begräbt man nicht mehr nach feierlichem Ritus,
sondern unter Mißachtung aller früher geübten Bestattungsbräuche
in wildem Durcheinander (52, 4). Die Achtung vor geschriebenem
und ungeschriebenem Gesetz (37, 3) hat sich in Gesetzlosigkeit (53, 1:
ent Til&ov dvoplag), in Respektlosigkeit vor Göttern und vor mensch-
lichem Gesetz (53, 4) verwandelt. Angesichts dieses jedes Maß
menschlicher Planung übersteigenden Unheils erweist sich der
Mensch gerade nicht als ein autarkes Wesen (51, 3: ocopa re avragzeg
öv oüöev öiecpavv])67, wie denn auch sein im Epitaphios gerühmter Un-
ternehmungsgeist und Wagemut augenblicklich dahinsinkt (51, 4-5).
Das alles bedeutet: die Athener haben die erste Probe nicht auf
militärischem Gebiete, sondern in der menschlichen Gesittung nicht
bestanden68. Ist so die Pest wie eine Gegenrede dem Epitaphios
gegenübergestellt, so muß man nun auch sehen, daß dieser dadurch
relativiert wird. Die ethischen Prädikationen des Epitaphios erwei-
sen sich auf dem Hintergrund dieses provozierend herausgestellten
Kontrastes als unwirklich. Zwar sagt Thukydides, daß mit der Seuche
zuerst in größerem Ausmaß die Auflösung von Gesetz und Sitte
begann (53, 1), aber das bedeutet nicht, daß vorher alles in gefestig-
ter Ordnung war, sondern: was vorher verborgen war (d jiq6t8Qov
djtsxQiMTETo), ist nun an die Oberfläche gelangt, unter der es latent
schon vorhanden war. Thukydides hat auf diese Weise eine histo-
rische Grundsituation gestaltet und zugleich dramatische Akzente
gesetzt. Dabei steht der Epitaphios in der Komposition des Ganzen
etwa auf einer Stufe mit dem stolzen Bilde der Flottenausfahrt (VI
30-31) zu Beginn der sizilischen Expedition, einem Bilde geordneter
Macht in starkem Kontrast zu dem dann einsetzenden Ablauf des
67 Die Worte beziehen sich hier zwar zunächst im engeren Sinne darauf, daß der
Mensch der Krankheit hilflos gegenübersteht, doch ist die Beziehung zu 41, 1
unverkennbar.
68 VgL H.-P. Stahl, Thukydides, Zetemata 40, 1966, 78ff., der die Bedeutung der
Pestschilderung für die Darstellung des Thukydides von dieser Seite her tref-
fend behandelt.
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in der Einleitung. Der feierlichen, gesetzmäßigen Ausrichtung der
Totenfeier und der Bestellung einer Epitaphienrede steht die ur-
sprüngliche Gewalt der unerwartet hereingebrochenen Seuche gegen-
über (48, 2: eg Ö8 rpv ’AUpvalcov aoXiv egajuvalajg eveaeoe), die alle
menschlichen Berechnungen über den Haufen wirft und darüber
hinaus die Grundlagen der im Epitaphios gepriesenen Gesittung er-
schüttert. Denn nun begräbt man nicht mehr nach feierlichem Ritus,
sondern unter Mißachtung aller früher geübten Bestattungsbräuche
in wildem Durcheinander (52, 4). Die Achtung vor geschriebenem
und ungeschriebenem Gesetz (37, 3) hat sich in Gesetzlosigkeit (53, 1:
ent Til&ov dvoplag), in Respektlosigkeit vor Göttern und vor mensch-
lichem Gesetz (53, 4) verwandelt. Angesichts dieses jedes Maß
menschlicher Planung übersteigenden Unheils erweist sich der
Mensch gerade nicht als ein autarkes Wesen (51, 3: ocopa re avragzeg
öv oüöev öiecpavv])67, wie denn auch sein im Epitaphios gerühmter Un-
ternehmungsgeist und Wagemut augenblicklich dahinsinkt (51, 4-5).
Das alles bedeutet: die Athener haben die erste Probe nicht auf
militärischem Gebiete, sondern in der menschlichen Gesittung nicht
bestanden68. Ist so die Pest wie eine Gegenrede dem Epitaphios
gegenübergestellt, so muß man nun auch sehen, daß dieser dadurch
relativiert wird. Die ethischen Prädikationen des Epitaphios erwei-
sen sich auf dem Hintergrund dieses provozierend herausgestellten
Kontrastes als unwirklich. Zwar sagt Thukydides, daß mit der Seuche
zuerst in größerem Ausmaß die Auflösung von Gesetz und Sitte
begann (53, 1), aber das bedeutet nicht, daß vorher alles in gefestig-
ter Ordnung war, sondern: was vorher verborgen war (d jiq6t8Qov
djtsxQiMTETo), ist nun an die Oberfläche gelangt, unter der es latent
schon vorhanden war. Thukydides hat auf diese Weise eine histo-
rische Grundsituation gestaltet und zugleich dramatische Akzente
gesetzt. Dabei steht der Epitaphios in der Komposition des Ganzen
etwa auf einer Stufe mit dem stolzen Bilde der Flottenausfahrt (VI
30-31) zu Beginn der sizilischen Expedition, einem Bilde geordneter
Macht in starkem Kontrast zu dem dann einsetzenden Ablauf des
67 Die Worte beziehen sich hier zwar zunächst im engeren Sinne darauf, daß der
Mensch der Krankheit hilflos gegenübersteht, doch ist die Beziehung zu 41, 1
unverkennbar.
68 VgL H.-P. Stahl, Thukydides, Zetemata 40, 1966, 78ff., der die Bedeutung der
Pestschilderung für die Darstellung des Thukydides von dieser Seite her tref-
fend behandelt.
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