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Hellmut Flashar
gleicher Relation wie im Epitaphios. Wie im Epitaphios zeigt Peri-
kies auch jetzt den Athenern die nahezu unbegrenzte Macht der Stadt
auf (62, 2), an der die Athener festzuhalten haben. Nur die Zwangs-
läufigkeit, in der sich die Athener dank ihrer Machtpolitik befinden,
kommt unverhüllter zum Ausdruck (63, 2-3), vor allem in den Wor-
ten, die Herrschaft der Athener sei „gleichsam eine Tyrannis“ (mg
rvQavviöa), die bei den Beherrschten Haß auslöst, aus der man gar
nicht mehr heraustreten kann (fig ouö’ exarfivai eti üyiv eotiv), „die
zu ergreifen ungerecht, loszulassen aber gefährlich zu sein scheint“.
Daß das Ergreifen der Herrschaft ungerecht sein könnte, ist eine
Äußerung, die in einem Epitaphios freilich nicht möglich wäre. Aber
das dahinter stehende Machtdenken ist das gleiche; es basiert auf
der Maxime vom Recht des Stärkeren. Auch hier muß man erneut
fragen, ob es richtig ist, die letzte Perikiesrede mit der Mehrzahl der
Thukydidesforscher im wesentlichen als eine Apologie des Thuky-
dides für Perikies aufzufassen. Gewiß läßt Thukydides Perikies sich
in einer ganz bestimmten historischen Situation gegen Angriffe ver-
teidigen, aber daß die Rede von dem Bestreben des Thukydides nach
einer postumen Rehabilitation des Perikies bestimmt oder ausgelöst
sei, ist damit noch nicht gesagt71. Vielmehr empfiehlt es sich, die Frage
nach der Meinung des Thukydides in den Reden zunächst ganz
zurückzuhalten und diese unter dem Aspekt der sich aus der Situation
ergebenden perspektivischen Bedingtheit zu sehen, die Thukydides
zur Darstellung bringen wollte72, freilich von der höheren, dem
jeweiligen Redner jedoch nicht bekannten und dem Leser direkt
auch nicht mitgeteilten Ebene des Historikers. So münden die Mah-
nungen an die Athener sowohl im Epitaphios als auch in der letzten
Rede in den optimistischen Gedanken an den zukünftigen Ruhm
des mächtigen Athen73, an beiden Stellen aus der Situation heraus
gesagt, im Widerspruch zu dem tatsächlichen Verlauf der Dinge, den
der Historiker selbst ja kannte.
So ergibt sich: Abgesehen von den situationsbedingten Differen-
zen bringt Thukydides sowohl im Epitaphios wie auch in den an-
71 In diesem Sinne - also grundsätzlich auf der Basis von E. Schwartz - wird
die Rede in der im übrigen wertvollen, leider nicht gedruckten Dissertation
von W. Plenio, Die letzte Rede des Thukydides, Kiel 1954, behandelt.
72 Auf die perspektivische Bedingtheit in den Reden bei Thukydides hat H.-P.
Stahl, a. 0. treffend hingewiesen.
73 Im Epitaphios II 42, 4 und II 44, 2. Dazu in wörtlicher Parallele (öo^a
dcEipv'r](TTog xaraXeirtETai) II 64, 5.
Hellmut Flashar
gleicher Relation wie im Epitaphios. Wie im Epitaphios zeigt Peri-
kies auch jetzt den Athenern die nahezu unbegrenzte Macht der Stadt
auf (62, 2), an der die Athener festzuhalten haben. Nur die Zwangs-
läufigkeit, in der sich die Athener dank ihrer Machtpolitik befinden,
kommt unverhüllter zum Ausdruck (63, 2-3), vor allem in den Wor-
ten, die Herrschaft der Athener sei „gleichsam eine Tyrannis“ (mg
rvQavviöa), die bei den Beherrschten Haß auslöst, aus der man gar
nicht mehr heraustreten kann (fig ouö’ exarfivai eti üyiv eotiv), „die
zu ergreifen ungerecht, loszulassen aber gefährlich zu sein scheint“.
Daß das Ergreifen der Herrschaft ungerecht sein könnte, ist eine
Äußerung, die in einem Epitaphios freilich nicht möglich wäre. Aber
das dahinter stehende Machtdenken ist das gleiche; es basiert auf
der Maxime vom Recht des Stärkeren. Auch hier muß man erneut
fragen, ob es richtig ist, die letzte Perikiesrede mit der Mehrzahl der
Thukydidesforscher im wesentlichen als eine Apologie des Thuky-
dides für Perikies aufzufassen. Gewiß läßt Thukydides Perikies sich
in einer ganz bestimmten historischen Situation gegen Angriffe ver-
teidigen, aber daß die Rede von dem Bestreben des Thukydides nach
einer postumen Rehabilitation des Perikies bestimmt oder ausgelöst
sei, ist damit noch nicht gesagt71. Vielmehr empfiehlt es sich, die Frage
nach der Meinung des Thukydides in den Reden zunächst ganz
zurückzuhalten und diese unter dem Aspekt der sich aus der Situation
ergebenden perspektivischen Bedingtheit zu sehen, die Thukydides
zur Darstellung bringen wollte72, freilich von der höheren, dem
jeweiligen Redner jedoch nicht bekannten und dem Leser direkt
auch nicht mitgeteilten Ebene des Historikers. So münden die Mah-
nungen an die Athener sowohl im Epitaphios als auch in der letzten
Rede in den optimistischen Gedanken an den zukünftigen Ruhm
des mächtigen Athen73, an beiden Stellen aus der Situation heraus
gesagt, im Widerspruch zu dem tatsächlichen Verlauf der Dinge, den
der Historiker selbst ja kannte.
So ergibt sich: Abgesehen von den situationsbedingten Differen-
zen bringt Thukydides sowohl im Epitaphios wie auch in den an-
71 In diesem Sinne - also grundsätzlich auf der Basis von E. Schwartz - wird
die Rede in der im übrigen wertvollen, leider nicht gedruckten Dissertation
von W. Plenio, Die letzte Rede des Thukydides, Kiel 1954, behandelt.
72 Auf die perspektivische Bedingtheit in den Reden bei Thukydides hat H.-P.
Stahl, a. 0. treffend hingewiesen.
73 Im Epitaphios II 42, 4 und II 44, 2. Dazu in wörtlicher Parallele (öo^a
dcEipv'r](TTog xaraXeirtETai) II 64, 5.