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Hellmut Flash ar
in den Mund legt, der Krieg könne anders verlaufen, als man ver-
nünftigerweise erwartet, wenn der Krieg sich in die Länge zieht,
könne er sich zu einer Kette von Zufällen gestalten, deren Ausgang
gefährlich im Ungewissen liege, so ist dies aus der Sicht des Histo-
rikers ein vaticinium ex eventu, das umgekehrt gerade auf die
Athener paßt. Ebenso stellte sich uns der Ausblick des Perikies in
die Zukunft (II 42, 4: Jetzt und künftig werde man die Macht Athens
bewundern) als eine Formulierung dar, die Thukydides in Kenntnis
von dem im Widerspruch dazu stehenden Gang der Ereignisse ge-
troffen hat, um das perikleische Machtdenken zu charakterisieren.
Auch der Hinweis der Melier, der Verlauf des Krieges könne Wen-
dungen der tu/t] bringen, die beide Parteien nicht abgestuft nach
dem Verhältnis ihrer Macht treffen (V 102), und sie könnten für sich
das Vertrauen auf die göttliche in Anspruch nehmen (V 104),
ist ein vaticinium ex eventu durch den Historiker, aber im Gegen-
satz zu dem in der Athenerrede ein positives. So wie die Überlegun-
gen der Athener durch die Geschichte widerlegt werden, bestätigen
sich die Warnungen der Melier gegen alle vernünftige Berechnung
der Machtmittel. Gewiß wird man nun nicht auf der anderen Seite
das konservativ-traditionelle Denken der Melier mit dem des Thuky-
dides schlechtweg in eins setzen, aber Thukydides steht doch insoweit
auf ihrer Seite, als er selbst vom Ausgang des Krieges her zu er-
kennen gibt, daß eine Rechnung mit reinen Machtfaktoren unbe-
kannte Größen enthält, die durch unvorhersehbare Umstände (Pest,
Tod des Perikies) in Verbindung mit einer Eskalation der Macht zu
einer immer stärker in Pleonexie ausartenden hybriden Entwicklung
führt, die in dann begangenen Fehlern die Gefahr des Untergangs
heraufbeschwört.
Hier fassen wir nun auch den Unterschied zwischen der periklei-
schen und der nachperikleischen Politik. Das Verhalten der Menge
ist im Grunde das gleiche, die ideellen Grundlagen der Machtpolitik
sind die gleichen, aber die Situationen und Personen in ihrem Ver-
hältnis zu dieser Macht sind andere93, und folglich entwickelt sich
der Gang der Ereignisse anders als vorausgeplant, — wie Thukydides
es darstellt, dem Verhängnis immer stärker zueilend.
93 Überzeugend Strasburger, Thukydides und die politische Selbstdarstellung der
Athener, a. 0. 29f. (= Thuk., Wege d. Forschg. 515): „Meines Erachtens will
Thukydides nicht eine Entwicklung zeigen, sondern die verschiedenen Aspekte
eines sich gleichbleibenden athenischen Imperialismus unter verschiedener Lei-
tung und in veränderten politischen und militärischen Situationen.“
Hellmut Flash ar
in den Mund legt, der Krieg könne anders verlaufen, als man ver-
nünftigerweise erwartet, wenn der Krieg sich in die Länge zieht,
könne er sich zu einer Kette von Zufällen gestalten, deren Ausgang
gefährlich im Ungewissen liege, so ist dies aus der Sicht des Histo-
rikers ein vaticinium ex eventu, das umgekehrt gerade auf die
Athener paßt. Ebenso stellte sich uns der Ausblick des Perikies in
die Zukunft (II 42, 4: Jetzt und künftig werde man die Macht Athens
bewundern) als eine Formulierung dar, die Thukydides in Kenntnis
von dem im Widerspruch dazu stehenden Gang der Ereignisse ge-
troffen hat, um das perikleische Machtdenken zu charakterisieren.
Auch der Hinweis der Melier, der Verlauf des Krieges könne Wen-
dungen der tu/t] bringen, die beide Parteien nicht abgestuft nach
dem Verhältnis ihrer Macht treffen (V 102), und sie könnten für sich
das Vertrauen auf die göttliche in Anspruch nehmen (V 104),
ist ein vaticinium ex eventu durch den Historiker, aber im Gegen-
satz zu dem in der Athenerrede ein positives. So wie die Überlegun-
gen der Athener durch die Geschichte widerlegt werden, bestätigen
sich die Warnungen der Melier gegen alle vernünftige Berechnung
der Machtmittel. Gewiß wird man nun nicht auf der anderen Seite
das konservativ-traditionelle Denken der Melier mit dem des Thuky-
dides schlechtweg in eins setzen, aber Thukydides steht doch insoweit
auf ihrer Seite, als er selbst vom Ausgang des Krieges her zu er-
kennen gibt, daß eine Rechnung mit reinen Machtfaktoren unbe-
kannte Größen enthält, die durch unvorhersehbare Umstände (Pest,
Tod des Perikies) in Verbindung mit einer Eskalation der Macht zu
einer immer stärker in Pleonexie ausartenden hybriden Entwicklung
führt, die in dann begangenen Fehlern die Gefahr des Untergangs
heraufbeschwört.
Hier fassen wir nun auch den Unterschied zwischen der periklei-
schen und der nachperikleischen Politik. Das Verhalten der Menge
ist im Grunde das gleiche, die ideellen Grundlagen der Machtpolitik
sind die gleichen, aber die Situationen und Personen in ihrem Ver-
hältnis zu dieser Macht sind andere93, und folglich entwickelt sich
der Gang der Ereignisse anders als vorausgeplant, — wie Thukydides
es darstellt, dem Verhängnis immer stärker zueilend.
93 Überzeugend Strasburger, Thukydides und die politische Selbstdarstellung der
Athener, a. 0. 29f. (= Thuk., Wege d. Forschg. 515): „Meines Erachtens will
Thukydides nicht eine Entwicklung zeigen, sondern die verschiedenen Aspekte
eines sich gleichbleibenden athenischen Imperialismus unter verschiedener Lei-
tung und in veränderten politischen und militärischen Situationen.“