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Roland Hampe
nackte Göttinnen, frontal, mit Ketten auf der Brust geschmückt,
Wasservögel in den seitwärts erhobenen Händen (Taf. 19). E.
Simon86 deutet sie überzeugend auf die Chariten von Orchomenos,
die nach Pindar „die Gewässer des Kephissos erlöst haben“87. Auf
einer böotischen Bronzescheibe aus Tegea88 sehen wir eine nackte
Göttin, die einen Mohnstengel hält, auf einem Rind stehen (Taf.
18,i), ein Motiv, dessen Herkunft aus dem Orient evident ist.
Am intensivsten wurde die orientalische nackte Göttin, soviel wir
bisher wissen, dann im 7. Jahrhundert in Kreta übernommen. Ihr
Bild ist in den Votivgaben mehrerer kretischer Kultstätten bezeugt89.
Im Rundfries des bereits erwähnten Bronzeschildes aus der Ida-
grotte (Taf. 17,1) steht eine nackte Göttin frontal zwischen zwei
Löwen. E. Kunze hatte richtig erkannt90, daß die „konsequente Vor-
deransicht“ nicht griechischen Ursprungs sei, daß ferner „die starke
Betonung der Geschlechtsmerkmale“ sowie „die übermäßige Breite
der Hüften“ und die „deutliche Angabe des Schamhaares“ nicht ur-
sprünglich griechisch sein können. Dazu komme die Haartracht der
Göttin, die der sogenannten Hathor-Frisur ähnelt. Dennoch schrieb
Kunze den Schild einer griechischen Werkstatt auf Kreta zu. Aber so-
wohl der Figuren- wie der Ornamentstil dieses Schildes ist in allen
Elementen ungriechisch. Er zeigt, wie auch andere Schilde dieser
Gruppe, eine Art Koine von Derivatstilen des Vorderen Orients, die
sich aus späthethitisch-nordsyrischen, assyrisierenden und ägyptisie-
renden Elementen zusammensetzt. Die Werkstatt dieses Schildes
wird in einem der späthethitischen Kleinfürstentümer Nordsyriens
zu suchen sein, das heißt, in der Gegend, aus der in religiöser und
künstlerischer Hinsicht damals die stärksten Impulse nach Griechen-
land kamen91.
In eben diese Richtung weist der seltsame, allem Griechischen
widersprechende Grundriß des Tempels, der im 7. Jahrhundert auf
der Akropolis von Gortyn errichtet wurde. Nach Ansicht der Aus-
gräber hat er seine nächsten Entsprechungen im späthethitisch-
86 E. Simon, Die Götter der Griechen 240.
87 Pindar, 01. XIV 1; Paus. IX 35, 1. 38, 1.
88 BCH. 45 (1921) 384 Abb. 45; AA. 1922, Uff. (Val. Müller); Kunze, KB. 201.
205; Hampe, Sagenbilder 40 Anm. 4; Jdl. 52 (1937) 89 Abb. 9 (Technau).
89 Kunze, KB. 201; R. Demargne, La Crete dedalique (1947) 272 ff.
90 Kunze, KB. 191.
91 S. oben Anm. 80.
Roland Hampe
nackte Göttinnen, frontal, mit Ketten auf der Brust geschmückt,
Wasservögel in den seitwärts erhobenen Händen (Taf. 19). E.
Simon86 deutet sie überzeugend auf die Chariten von Orchomenos,
die nach Pindar „die Gewässer des Kephissos erlöst haben“87. Auf
einer böotischen Bronzescheibe aus Tegea88 sehen wir eine nackte
Göttin, die einen Mohnstengel hält, auf einem Rind stehen (Taf.
18,i), ein Motiv, dessen Herkunft aus dem Orient evident ist.
Am intensivsten wurde die orientalische nackte Göttin, soviel wir
bisher wissen, dann im 7. Jahrhundert in Kreta übernommen. Ihr
Bild ist in den Votivgaben mehrerer kretischer Kultstätten bezeugt89.
Im Rundfries des bereits erwähnten Bronzeschildes aus der Ida-
grotte (Taf. 17,1) steht eine nackte Göttin frontal zwischen zwei
Löwen. E. Kunze hatte richtig erkannt90, daß die „konsequente Vor-
deransicht“ nicht griechischen Ursprungs sei, daß ferner „die starke
Betonung der Geschlechtsmerkmale“ sowie „die übermäßige Breite
der Hüften“ und die „deutliche Angabe des Schamhaares“ nicht ur-
sprünglich griechisch sein können. Dazu komme die Haartracht der
Göttin, die der sogenannten Hathor-Frisur ähnelt. Dennoch schrieb
Kunze den Schild einer griechischen Werkstatt auf Kreta zu. Aber so-
wohl der Figuren- wie der Ornamentstil dieses Schildes ist in allen
Elementen ungriechisch. Er zeigt, wie auch andere Schilde dieser
Gruppe, eine Art Koine von Derivatstilen des Vorderen Orients, die
sich aus späthethitisch-nordsyrischen, assyrisierenden und ägyptisie-
renden Elementen zusammensetzt. Die Werkstatt dieses Schildes
wird in einem der späthethitischen Kleinfürstentümer Nordsyriens
zu suchen sein, das heißt, in der Gegend, aus der in religiöser und
künstlerischer Hinsicht damals die stärksten Impulse nach Griechen-
land kamen91.
In eben diese Richtung weist der seltsame, allem Griechischen
widersprechende Grundriß des Tempels, der im 7. Jahrhundert auf
der Akropolis von Gortyn errichtet wurde. Nach Ansicht der Aus-
gräber hat er seine nächsten Entsprechungen im späthethitisch-
86 E. Simon, Die Götter der Griechen 240.
87 Pindar, 01. XIV 1; Paus. IX 35, 1. 38, 1.
88 BCH. 45 (1921) 384 Abb. 45; AA. 1922, Uff. (Val. Müller); Kunze, KB. 201.
205; Hampe, Sagenbilder 40 Anm. 4; Jdl. 52 (1937) 89 Abb. 9 (Technau).
89 Kunze, KB. 201; R. Demargne, La Crete dedalique (1947) 272 ff.
90 Kunze, KB. 191.
91 S. oben Anm. 80.