Die neuen Menanderpapyri und die Originalität des Plautus
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richtet und der Tempelherr, nichts ahnend, daß er selbst dieser Bruder
ist, sich über ihn voll bitterer Ironie äußert:
Wird das Brüderchen mit Essen und mit Kleidung,
mit Naschwerk und mit Putz das Schwesterchen
nicht reichlich gnug versorgen ?
Und was braucht
ein Schwesterchen denn mehr . . .
Der zweite Akt von Goethes <Clavigo> beginnt mit einem Dialog
zwischen Clavigo, der seine Geliebte verlassen hat, und Beaumarchais,
dem Bruder der Geliebten, der aus Frankreich gekommen ist, um die
Sache in Ordnung zu bringen. Beaumarchais leitet die verfremdende
Rede, die mehrere Seiten umfaßt, mit den Worten ein: «Ein französi-
scher Kaufmann hatte viele Korrespondenten in Spanien.» Im Lauf
der Rede beginnt Clavigo allmählich den Bezug der Rede auf sich zu
ahnen, wie aus Goethes Regiebemerkungen hervorgeht: «Clavigo
wird immer aufmerksamer . . . Clavigo verliert alle Munterkeit aus
seinem Gesicht, und sein Ernst geht nach und nach in eine Verlegen-
heit über, die immer sichtbarer wird . . . Clavigo bewegt sich in höch-
ster Verwirrung auf seinem Sessel ...» Die Rede ist fast wörtlich,
einschließlich der Regiebemerkungen und des Schlusses: «Du bist der
Verräter (vous etes le traitre)», aus den Memoiren des Beaumarchais
übersetzt35.
Eine hübsche Variante des Szenentyps, wo sich die den Partner an-
greifende und zum Besten habende Person Schritt für Schritt an die
Wahrheit herantastet, findet sich im Unbestechlichem von Hof-
mannsthal. Melanie, die bis vor kurzem Jaromirs Geliebte war und
nun bei ihm zu Gast weilt, hat im Turmzimmer in seinen Papieren
entdeckt, daß er ihrer beider Liebesgeschichte für einen Roman ver-
wendet. Sie stellt ihn daraufhin mit folgenden Worten: «Sie wissen, ich
lese ganz selten in Büchern, außer in ganz oberflächlichen, die einem
garnichts nützen. Aber manchmal passiert es doch, daß ich durch eine
35 Memoires de Μ. Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, 4me memoire ä con-
sulter (Ereignisse des 19. 5. 1767) in: Oeuvres completes de Μ. de Beaumarchais
II, 1780, p. 118 ss. In Goethes <Wilhelm Meisters Lehrjahre> erzählt der Arzt vor
Wilhelm Meister die Geschichte eines <vornehmen, reichen Ehepaars> (5. Buch,
16. Kapitel, S. 372 Artemis-Ausgabe), allerdings ohne zu wissen, daß Wilhelm
Meister es war, der sich als Graf verkleidete, um die Gräfin zu täuschen. Er er-
fährt dabei, welch verhängnisvolle Wirkung sein Verhalten beim Aufenthalt der
Schauspielertruppe auf dem Schloß (S. 202ff. 215ff.) gehabt hat.
3 Pöschl, Menanderpapyri
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richtet und der Tempelherr, nichts ahnend, daß er selbst dieser Bruder
ist, sich über ihn voll bitterer Ironie äußert:
Wird das Brüderchen mit Essen und mit Kleidung,
mit Naschwerk und mit Putz das Schwesterchen
nicht reichlich gnug versorgen ?
Und was braucht
ein Schwesterchen denn mehr . . .
Der zweite Akt von Goethes <Clavigo> beginnt mit einem Dialog
zwischen Clavigo, der seine Geliebte verlassen hat, und Beaumarchais,
dem Bruder der Geliebten, der aus Frankreich gekommen ist, um die
Sache in Ordnung zu bringen. Beaumarchais leitet die verfremdende
Rede, die mehrere Seiten umfaßt, mit den Worten ein: «Ein französi-
scher Kaufmann hatte viele Korrespondenten in Spanien.» Im Lauf
der Rede beginnt Clavigo allmählich den Bezug der Rede auf sich zu
ahnen, wie aus Goethes Regiebemerkungen hervorgeht: «Clavigo
wird immer aufmerksamer . . . Clavigo verliert alle Munterkeit aus
seinem Gesicht, und sein Ernst geht nach und nach in eine Verlegen-
heit über, die immer sichtbarer wird . . . Clavigo bewegt sich in höch-
ster Verwirrung auf seinem Sessel ...» Die Rede ist fast wörtlich,
einschließlich der Regiebemerkungen und des Schlusses: «Du bist der
Verräter (vous etes le traitre)», aus den Memoiren des Beaumarchais
übersetzt35.
Eine hübsche Variante des Szenentyps, wo sich die den Partner an-
greifende und zum Besten habende Person Schritt für Schritt an die
Wahrheit herantastet, findet sich im Unbestechlichem von Hof-
mannsthal. Melanie, die bis vor kurzem Jaromirs Geliebte war und
nun bei ihm zu Gast weilt, hat im Turmzimmer in seinen Papieren
entdeckt, daß er ihrer beider Liebesgeschichte für einen Roman ver-
wendet. Sie stellt ihn daraufhin mit folgenden Worten: «Sie wissen, ich
lese ganz selten in Büchern, außer in ganz oberflächlichen, die einem
garnichts nützen. Aber manchmal passiert es doch, daß ich durch eine
35 Memoires de Μ. Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, 4me memoire ä con-
sulter (Ereignisse des 19. 5. 1767) in: Oeuvres completes de Μ. de Beaumarchais
II, 1780, p. 118 ss. In Goethes <Wilhelm Meisters Lehrjahre> erzählt der Arzt vor
Wilhelm Meister die Geschichte eines <vornehmen, reichen Ehepaars> (5. Buch,
16. Kapitel, S. 372 Artemis-Ausgabe), allerdings ohne zu wissen, daß Wilhelm
Meister es war, der sich als Graf verkleidete, um die Gräfin zu täuschen. Er er-
fährt dabei, welch verhängnisvolle Wirkung sein Verhalten beim Aufenthalt der
Schauspielertruppe auf dem Schloß (S. 202ff. 215ff.) gehabt hat.
3 Pöschl, Menanderpapyri