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Hans Armin Gärtner
wird (<cum specie quadam liberali>). Die Doppelung der Ausdrücke
für die Sichtbarkeit beim speziellen <decorum> schließt die Ansicht
aus, es handele sich bei dieser Bestimmung nur um eine stilistische
Variation zum <differat> der ersten Definition. An den beiden Aus-
drücken, die es mit der Sichtbarkeit zu tun haben, wird der qualitative
Unterschied der zweiten Definition gegenüber der ersten deutlich.
Dieses Neue (das In-Erscheinung-Treten) kann man auch nicht, wie
das dem Denkschema <weiterer Begriff - engerer Begriffi entspräche,
als eine weitere Differenzierung der ersten Definition des allgemeinen
<decorum> verstehen. Damit ist das Denkschema durchbrochen34.
Diese Beobachtung wird für die kritische Analyse später wichtig
sein. Wir bleiben zunächst bei Ciceros Darlegungen.
Zusammenfassend kann man sagen: Cicero verfolgt bis zum § 96
die Bestimmung des Verhältnisses des <decorum> zum <honestum>
als dem Überbegriff, der die vier Kardinaltugenden umfaßt. Dieses
Ziel hat er mit dem Ende des § 95 erreicht. Als Ergebnis seines
Gedankenganges ergibt sich bei ihm die Definition des Gesamt-
34 H. Jungblut, Die Arbeitsweise Ciceros, S. 61 mit Anm. 3, sucht diese Unstimmig-
keit dadurch zu klären, daß er postuliert, Cicero habe in seiner Quelle gefunden,
das <decorum> sei die äußere Erscheinung dessen, was übereinstimmt mit der Vor-
züglichkeit des Menschen ... Es handelt sich aber nicht um eine Ungenauigkeit
der Wiedergabe der griechischen Vorlage an dieser Stelle: das beweisen die zwei
verwandten Sätze in § 97 und § 98. (vgl. S. 45-49)
R. Phillippson, Das Sittlichschöne, S. 388/9, hat die Definition des allgemeinen
<decorum> als «mangelhaft» getadelt; es fehle dort das <apparet>. - Doch ist, wie
wir meinen, das kein einmaliger Fehler, sondern symptomatisch für Ciceros
Behandlung der Gedanken des Panaitios.
Interessant ist eine andere Beobachtung Philippsons (a.O. S. 388). Er sieht in der
Unterscheidung des Allgemeinen und des Besonderen beim <decorum> eine
Parallele zu derselben Unterscheidung in der Lehre des Kleanthes vom τόνος
und in der Lehre des Hekaton von der ισχύς. Der allgemeine τόνος zeigt sich je
nachdem SVF 1,128,21 Fr. 563, vgl. Philippson, a.O. S. 368) als έγκράτεια
ανδρεία, δικαιοσύνη und σωφροσύνη; bei Stobaios 5,4b (nach Philippson,
S. 377 und öfters, sind es Gedanken des Hekaton) werden die untheoretischen
Tugenden μεγαλοψυχία, ρώμη, ισχύς ψυχής unter ισχύς zusammengefaßt. Es
sei hier schon darauf hingewiesen, daß einer der beiden genannten Systematiker,
nämlich Hekaton, ein Schüler des Panaitios war.
Philippsons Aufsatz ist stark von einem systematisierenden Interesse bestimmt.
Es ist für unsere weiteren Darlegungen von Bedeutung, daß gerade für den
Systematiker Philippson sich diese Parallelen ergaben.
Außerdem sei hier schon darauf hingewiesen (vgl. S. 42-44), daß nach diesen
Definitionen das <decorum> etwas ist, das - wie der τόνος und die ισχύς - mit
der Entfaltung in die Einzeltugenden gleichsam erschöpft ist. Doch ist uns ja
bekannt, daß das πρέπον <decorum> weiterreicht; es weckt die <approbatio> und
ist dadurch auch nützlich, daß die <studia> der Menschen sich dem zuwenden,
der das <decorum> aufweist.
Hans Armin Gärtner
wird (<cum specie quadam liberali>). Die Doppelung der Ausdrücke
für die Sichtbarkeit beim speziellen <decorum> schließt die Ansicht
aus, es handele sich bei dieser Bestimmung nur um eine stilistische
Variation zum <differat> der ersten Definition. An den beiden Aus-
drücken, die es mit der Sichtbarkeit zu tun haben, wird der qualitative
Unterschied der zweiten Definition gegenüber der ersten deutlich.
Dieses Neue (das In-Erscheinung-Treten) kann man auch nicht, wie
das dem Denkschema <weiterer Begriff - engerer Begriffi entspräche,
als eine weitere Differenzierung der ersten Definition des allgemeinen
<decorum> verstehen. Damit ist das Denkschema durchbrochen34.
Diese Beobachtung wird für die kritische Analyse später wichtig
sein. Wir bleiben zunächst bei Ciceros Darlegungen.
Zusammenfassend kann man sagen: Cicero verfolgt bis zum § 96
die Bestimmung des Verhältnisses des <decorum> zum <honestum>
als dem Überbegriff, der die vier Kardinaltugenden umfaßt. Dieses
Ziel hat er mit dem Ende des § 95 erreicht. Als Ergebnis seines
Gedankenganges ergibt sich bei ihm die Definition des Gesamt-
34 H. Jungblut, Die Arbeitsweise Ciceros, S. 61 mit Anm. 3, sucht diese Unstimmig-
keit dadurch zu klären, daß er postuliert, Cicero habe in seiner Quelle gefunden,
das <decorum> sei die äußere Erscheinung dessen, was übereinstimmt mit der Vor-
züglichkeit des Menschen ... Es handelt sich aber nicht um eine Ungenauigkeit
der Wiedergabe der griechischen Vorlage an dieser Stelle: das beweisen die zwei
verwandten Sätze in § 97 und § 98. (vgl. S. 45-49)
R. Phillippson, Das Sittlichschöne, S. 388/9, hat die Definition des allgemeinen
<decorum> als «mangelhaft» getadelt; es fehle dort das <apparet>. - Doch ist, wie
wir meinen, das kein einmaliger Fehler, sondern symptomatisch für Ciceros
Behandlung der Gedanken des Panaitios.
Interessant ist eine andere Beobachtung Philippsons (a.O. S. 388). Er sieht in der
Unterscheidung des Allgemeinen und des Besonderen beim <decorum> eine
Parallele zu derselben Unterscheidung in der Lehre des Kleanthes vom τόνος
und in der Lehre des Hekaton von der ισχύς. Der allgemeine τόνος zeigt sich je
nachdem SVF 1,128,21 Fr. 563, vgl. Philippson, a.O. S. 368) als έγκράτεια
ανδρεία, δικαιοσύνη und σωφροσύνη; bei Stobaios 5,4b (nach Philippson,
S. 377 und öfters, sind es Gedanken des Hekaton) werden die untheoretischen
Tugenden μεγαλοψυχία, ρώμη, ισχύς ψυχής unter ισχύς zusammengefaßt. Es
sei hier schon darauf hingewiesen, daß einer der beiden genannten Systematiker,
nämlich Hekaton, ein Schüler des Panaitios war.
Philippsons Aufsatz ist stark von einem systematisierenden Interesse bestimmt.
Es ist für unsere weiteren Darlegungen von Bedeutung, daß gerade für den
Systematiker Philippson sich diese Parallelen ergaben.
Außerdem sei hier schon darauf hingewiesen (vgl. S. 42-44), daß nach diesen
Definitionen das <decorum> etwas ist, das - wie der τόνος und die ισχύς - mit
der Entfaltung in die Einzeltugenden gleichsam erschöpft ist. Doch ist uns ja
bekannt, daß das πρέπον <decorum> weiterreicht; es weckt die <approbatio> und
ist dadurch auch nützlich, daß die <studia> der Menschen sich dem zuwenden,
der das <decorum> aufweist.