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Rieger, Dietmar; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1975, 3. Abhandlung): Der Vers de dreyt nien Wilhelms IX. von Aquitanien: rätselhaftes Gedicht oder Rätselgedicht?: Untersuchung zu einem "Schlüsselgedicht" der Trobadorlyrik — Heidelberg: Winter, 1975

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https://doi.org/10.11588/diglit.45456#0055
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Der vers de dreyt nien Wilhelms IX. von Aquitanien

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tellegi)147 oder die Praxis des mittellateinischen Rätsels zugrunde, kein
Rätselgedicht im eigentlichen Sinn: weder ist seine Literalaussage eine
andere als die hinter ihr verborgene und zu entschlüsselnde, noch
fragt das Gedicht nach einem bestimmten Lösungswort, zu dem als
Zentrum alle Teile des vers in eine eindeutige und rückwirkend alles
Mysteriöse entschleiernde Beziehung treten würden. Die unaufgelöste
Aussage des Lieds besteht für sich selbst, hat einen Eigenwert, den die
nachträgliche Lösung nicht zu zerstören und aufzuheben vermag, son-
dern den sie - wie wir sehen konnten - im Gegenteil stützt, unter-
streicht und verdeutlicht. Und doch ist der vers de dreyt nien ein Rät-
selgedicht, indem er seinen Adressaten zu seiner Auflösung und Ent-
schlüsselung auffordert und unter der äußeren Hülle seines estuy wenn
keine bestimmte Lösung, so verschiedene mit seiner Aussage kon-
gruierende Lösungen verbirgt. Nicht zuletzt aus dem Verfahren aber,
nach dem der Trobador dieses komplizierte estuy geschaffen und zum
Sprechen gebracht hat, resultiert die Rätselhaftigkeit dieses Lieds,
macht den vers de dreyt nien zu einem rätselhaften Lied.
Nachtrag: Die inzwischen erschienene, insgesamt gelungene Neuedition der
Lieder Wilhelms IX. von N. Pasero (Guglielmo d’Aquitania, Poesie, Modena 1973)
hat - wie erwartet - bei Lied IV den Text der Hs. E zugrundegelegt, was sich auf
Grund unserer Ausführungen, zumindest was die Str. VII* betrifft, als falsch her-
ausgestellt haben dürfte. Im übrigen scheint N. Pasero selbst an der Authentizität
der nur in Hs. E überlieferten Strophe Zweifel zu hegen, wenn er schreibt: «Certo
ehe la funzione di <rottura> del verso 35 potrebbe essere un indizio per la con-
clusione del componimento alla cobla 6, e quindi per l’apocrifia di questa cobla,
inserita prima della tornada» (p. 109). Was v. 40 betrifft, so wagt auch Pasero -
trotz seiner Entscheidung für Hs. E - nicht, sich ohne Vorbehalte für die Lesart
Peitau (Hs. E) statt Artjau (Hs. C) zu entscheiden (p. 111: Autorenvarianten? Sen-
hals?). Sehr beachtenswert sind Paseros einleitende Ausführungen zu Lied IV,
außergewöhnlich instruktiv und ausführlich die Kommentare zu den einzelnen Be-
griffen und Versen des Gedichts (pp. 96-112), die u. a. nicht nur die bisherigen
Forschungsresultate bzw. -hypothesen resümieren, sondern z. T. auch eigene Er-
klärungsversuche vortragen - so etwa p. 107, wo für ostau. die Bedeutung «vulva»
vorgeschlagen wird (Bedeutung der Str. V: «Ho una amante, ma non la conosco;
non mi ha fatto mai nulla ehe mi colpisca; e del resto non me ne importa niente,
perche nella <dimora> ehe mi appartiene non s’e mai introdotto nessun estraneo»;
doch warum dann nicht dins son ostau"}). Nachzutragen ist bezüglich des Zodiakal-
zeichens Waage (p. 44), daß die in mittelalterlichen Kalendern zu findende Tier-
kreiszeichenunterteilung des Jahres in 12 «Monate» nach dem willkürlichen und
mechanischen, vor allem völlig unastrologischen Prinzip semper quindenis ponan-
tur signa Kalendis auch laienastrologisch irrelevant und von rein kalendarischer

147 Vgl. D. Scheludko, Beiträge, p. 164.
 
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