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Hölscher, Uvo; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1976, 3. Abhandlung): Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie: vorgetragen am 6. Februar 1971 — Heidelberg: Winter, 1976

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https://doi.org/10.11588/diglit.45460#0019
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Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie
Brentanos zustimmen. Der fragwürdige Punkt liegt in der absoluten Auf-
fassung des Seins, die aus einem falschen Verständnis des «an sich Seien-
den» entspringt und zu der vermeintlichen Lehre einer Klassifizierung alles
Seienden nach obersten Gattungen geführt hat.
Zu einer ähnlichen Auffassung ist, auf anderem Wege, Ross gelangt. Dem
Herausgeber der Metaphysik konnte es nicht entgehn, daß καθ’ αύτο είναι
von Aristoteles nicht in diesem absoluten Sinne gebraucht wird, sondern
Prädikationen meint, und zwar die Prädikation einer «notwendigen Ver-
bindung» (Aristotle, Metaphysics I 306, ad 22—30) im Unterschied zu dem
akzidentalen Sein. Vier Möglichkeiten «notwendiger Verbindung» sieht er:
es kann von einem Gegenstand seine Definition, seine Gattung, seine spezi-
fische Differenz oder seine (notwendige) Eigenschaft ausgesagt werden. Aber
nun stellt er eine sonderbare Überlegung an: In allen diesen Aussagen,
außer der zweiten, werden Subjekt und Prädikat verschiedenen Kategorien
angehören, sie sind also nicht geeignet, um das Seiende «nach Kategorien
zu klassifizieren». Darum habe Aristoteles mit καθ’ αύτο allein die Aussage
der Gattung im Auge, die stets innerhalb der selben Kategorie bleibt: z. B.
von einer Substanz wird die Substanz ausgesagt; doch gilt das ebenso von den
anderen Kategorien. Ross kann sich dafür auf Topik I 9 (103 b 27—37)
berufen, wo Aristoteles die verschiedenen Bedeutungen des τι έστι feststellt:
jemand ist ein Mensch, der Mensch ist ein Lebewesen, Lebewesen ist Substanz;
etwas Weißes ist weiß, Weiß ist eine Farbe, Farbe ist Qualität; usw. in den
anderen Kategorien. In jeder dieser Reihen nehme aber das ist jeweils eine
andere «Färbung» an, und dies seien die verschiedenen Bedeutungen von
sein καθ’ αύτο: das, was die verschiedenen Bestimmungen eines Gegenstandes
an sich sind.
Auch hier erscheinen die Kategorien als die obersten Gattungen der Prädi-
kate: Prädikate aber nicht als Prädikationen der ersten Substanz, sondern
der ihnen direkt untergeordneten Species und Einzelphänomene.
Daß dies so nicht richtig sein kann, hat schon Giovanni Reale in seinem
Metaphysikkommentar bemerkt: die Beispiele, die Aristoteles für die Kate-
gorie des Tuns anführt («der Mensch geht. . .»), sind keine Gattungsaussagen
(Bd. I S. 435).
Aber auch die Argumentation, die das καθ’ αύτο auf Gattungsaussagen
beschränkt, ist bedenklich. Die Forderung, daß Subjekt und Prädikat der-
selben Kategorie angehören müssen, führt zu verwirrenden Konsequenzen.
Welche «Färbung» — und das heißt doch: Bedeutung — hat ist in normalen
kategorialen Aussagen? Doch wohl nicht eine gemischte? Ferner, in den
verschiedenen Antworten auf die τι έστι-Frage: ist nicht das ist gerade hier
immer dasselbe, nämlich das der Gattungsprädikation? Und hat sein die
verschiedenen Bedeutungen nicht vielmehr dort, wo es das Dies-sein, Wie-sein,
Wo-sein, Wann-sein eines Gegenstandes bezeichnet?
Scheinbare Bestätigung für Ross ist eine andere Stelle der Metaphysik,
wo der Gedanke der Topik (I 9) aufgegriffen wird, Z 4 (1030 a 17—32).
 
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