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Hölscher, Uvo; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1976, 3. Abhandlung): Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie: vorgetragen am 6. Februar 1971 — Heidelberg: Winter, 1976

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https://doi.org/10.11588/diglit.45460#0029
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Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie
Nun hat Aristoteles schon einmal, am Ende des Buches E, sich kurz über
das Seiende als Wahr-seiendes geäußert, um diese Bedeutung als eine von den
«eigentlichen» verschiedene, έτερον των κυρίων, auf eine spätere Behandlung
zu verschieben, welche wir offenbar in Θ 10 vor uns haben. Die κυρία sind
natürlich das kategoriale Sein der Substanz und das Sein der Möglichkeit und
Wirklichkeit, denen er die zentralen Abhandlungen der Bücher Z Η Θ
gewidmet hat, um nun am Schluß in aller Kürze auf die noch verbleibende
Bedeutung des Wahr-seins einzugehen. Ich halte es (trotz Kahn, The Greek
Verb <to be> and the Concept of Being, Foundations of Language 2, 1966,
S. 250) für ausgeschlossen, daß Aristoteles diese jetzt zur Haupt- oder
Grundbedeutung erklärt. Darum, wenn man nicht eine völlig unerklärliche
Umkehrung seiner Anschauung, oder kaum entschuldbare Bedeutungsände-
rung desselben Ausdrucks, annehmen will, ist auch dort, 1051b 1, derselbe
Sinn herzustellen: z. B. το δε <παρα τα) κυριωτατα όν αληθές (vgl. Poetik
1458 a 23 το παρα το κύριον; weniger wahrscheinliche Konjekturen von
Ross II 274 und Jaeger ad 1.). Daß das κυριωτατον in aristotelischer Ter-
minologie nicht auf das Seiende ως αληθές anzuwenden, sondern dem
Seienden als Wirklichkeit vorbehalten ist, beweist eine Stelle im K (1064 b 1),
wo «das Göttliche» als die πρώτη και κυριωτατη άρχη bezeichnet wird.
Man nehme damit zusammen, was wenig später über das Wahr-sein gesagt
wird (1065a 21 ff.): daß die Erforschung der Prinzipien sich nicht auf dieses
erstrecke, sondern auf das «äußere und selbständige Seiende». Denn «Wahr
und Falsch sind nicht in den Dingen, sondern im Verstände» und finden statt
durch «Verknüpfung» der Kategorien «im Verstände» (E 4, 1027 b 25—33).
Es steht also fest, daß wir es im Schlußkapitel des Θ ebenso wie im Schluß
des E mit einer ontologisch nachgeordneten Bedeutung von sein zu tun haben.
Θ 10 geht aber insofern über das E hinaus, als jetzt das Wahr- oder Falsch-
sein auf einen Sachverhalt «an den Dingen», das heißt auf ein Sein in der
Wirklichkeit zurückgeführt wird: ein Verbundensein oder Getrenntsein.
Verbundensein ist das Verbunden-sein einer Substanz mit ihrer Kategorie.
Es gibt das «Immer verbunden sein» — das ist das Sein der καθ’ αύτα όντα,
die «immer und mit Notwendigkeit» einer Substanz zukommen. Es gibt das
«mögliche» Verbunden-sein — das ist der eigentliche Bereich des Werdens und
der Gegensätze. Demgegenüber ist das Nicht-sein ein Getrennt-sein oder
«Vieles-sein». Als das kategoriale Verbunden-sein in der Substanz kann
Aristoteles das Sein der Dinge auch einfach das Einssein nennen. Die Einheit
ist nichts anderes als das Seiende. Das Seiende selber ist die Einheit eines
Zwiefachen. — Auf dies Sein der Dinge, als das κυρίως ov, wird nun die
Wahrheit des Meinens und des Denkens gegründet. Das Sein ως αληθές
«verbindet» nicht (Subjekt und Prädikat), sondern bezeichnet ein «Ver-
bundenes»: auch in dieser Bedeutung reduziert sich sein nicht auf die kopu-
lative Funktion der Synthesis im Verstände, sondern auf seinen substantialen
Sinn.
Das wird ganz deutlich im Folgenden, wo Aristoteles von dem Wahr-sein
 
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