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Hölscher, Uvo; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1976, 3. Abhandlung): Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie: vorgetragen am 6. Februar 1971 — Heidelberg: Winter, 1976

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https://doi.org/10.11588/diglit.45460#0031
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29

VII
Wenn denn beide Begriffe, sowohl das kopulative wie das existentiale Sein,
bei Aristoteles nicht nachzuweisen sind, so muß man seinen angeblichen
Vorwurf gegen Parmenides, den man aus den Worten des Eudemos heraus-
liest — nämlich diese beiden Bedeutungen verwechselt zu haben — überprüfen.
Aber wir sind, um zu entscheiden, was Aristoteles dem Parmenides vor-
geworfen hat, nicht auf Eudemos angewiesen; er schreibt es selber in der
Physik, I 3. Die Stelle ist allerdings schwierig, und mit Recht tadelt
Simplikios, Adrastos zitierend, den Aristoteles dafür, wie unklar er sich hier
ausgedrückt habe (in phys. 126. 11). Es ist aber eben dies die Stelle, die
Eudemos im Auge hatte, und es muß sich daraus also auch ergeben, was
Eudemos gemeint hat.
Auch für Parmenides gilt dieselbe Art der Argumentationen, obschon es auch
noch einige besondere gibt. Ihre Widerlegung besteht darin, daß sie auf einem
Irrtum beruht, und daß die Schlußfolgerung nicht stimmt. Sie ist irrig, sofern
sie voraussetzt, daß seiend nur in einfacher Bedeutung (απλώς) gesagt werde,
während es mehrerlei Bedeutung hat (λεγομένου πολλαχως). Die Schluß-
folgerung ist falsch aus folgendem Grunde: Nimmt man einmal nur die
weißen Dinge, und bezeichnet «weiß» dabei Eines (ein und dasselbe), so
sind doch die weißen Dinge nichtsdestoweniger viele und nicht Eines. Denn
weder als Kontinuum noch dem Begriff nach muß das Weiße deswegen Eines
sein. (Nicht dem Begriff nach:) Denn das Sein des Weißen (die Weiße) und
das Sein des Gegenstandes (der da weiß ist) sind etwas Verschiedenes. Und
zwar folgt daraus nicht, daß neben dem Weiß noch ein Für-sich-Seiendes ist;
denn nicht als Für-sich-Seiendes (χωριστόν), sondern durch die Seinsweise ist
das Weiße von demjenigen, dem das Weiße eigen ist, verschieden.
Aber das hat Parmenides noch nicht begriffen. Man muß also (nach ihm)
annehmen, daß das «Sein» das, wovon es ausgesagt wird, nicht allein als
Eines (Einheit) bezeichnet (εν σημαινειν το ov), sondern auch als Wesentlich-
Seiendes (δπερ ov) und Wesentlich-Eines (δπερ έν) (d. h. daß sein ganzes
und einziges Wesen im Sein und in der Einheit besteht). Denn wenn es als
Akzidens zukäme, würde es von einem Zugrundeliegenden gesagt, so daß
dasjenige, dem das Sein zukommt, (selber) nicht ist; denn es ist ja etwas
Anderes als das Sein; es wäre also «etwas», obwohl es nicht ist. Demnach
kann das Wesentliche Sein nicht Eigenschaft von etwas Anderem sein; denn
dieses kann unmöglich ein Etwas-Seiendes sein — es sei denn, daß «Seiend»
eine Mannigfaltigkeit bezeichnen kann (πολλά το όν σημαίνει) in dem Sinne,
daß jedes einzelne «etwas» ist; aber die Voraussetzung war ja, daß «seiend»
eine Einheit bezeichne (το δν σημαινειν έν).
Wenn nun das Wesentliche Sein keinem Ding als Akzidens zukommt, sondern
vielmehr alles andere dem Wesentlich-Seienden, dann bezeichnet das Wesent-
liche Sein ebensowenig das Seiende wie ein Nichtseiendes. Denn wenn das
Wesentlich-Seiende zugleich z. B. Weiß ist, das Sein des Weißen (oder die
Weiße) aber nicht wesentlich Sein ist — denn der Weiße könnte überhaupt
nicht Sein zukommen, weil seiend nur das wesentlich Seiende ist — so ist das
 
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