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Hölscher, Uvo; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1976, 3. Abhandlung): Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie: vorgetragen am 6. Februar 1971 — Heidelberg: Winter, 1976

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https://doi.org/10.11588/diglit.45460#0042
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«Die wahre Rede sagt τα δντα ώς έστιν»: die Wiederkehr der protagoreischen
Wendung aus dem Homo-Mensura-Satz kann uns ein Hinweis sein auch für
das Seinsverständnis des Protagoras:
πάντων χρημάτων μετρον έστιν άνθρωπος, των μεν δντων ως έστιν, των
δε ούκ δντων ώς ούκ έστιν.
Daß Platon Protagoras im Sinn hat, ist wahrscheinlich, weil er dieselbe
Wendung auch im Kratylos (385 b 7) gebraucht, wo er gleich danach auf den
Homo-Mensura-Satz zu sprechen kommt (385 e, 386 c). Die Frage ist aller-
dings, ob Platon ihn ganz richtig interpretiert. 385 e umschreibt er ihn mit:
«wie beschaffen die Dinge mir erscheinen, so beschaffen sind sie für mich»,
οία — τοια. Dieselbe Formulierung im Theätet 152 a 6. Dem ersten Anschein
nach gibt Platon mit οία das protagoreische ώς wieder. Das ist aber nicht der
Fall. In dem Satz des Protagoras ist ώς έστιν — wie immer man das ώς über-
setze — die Bestimmung dessen, was (oder wie es) «in Wahrheit» ist — nach
dem neuen protagoreischen Wahrheitsbegriff. In der platonischen Paraphrase
ist οία das vom Menschen Empfundene oder Vorgestellte, entspricht also
dem μετρον, während dem ώς έστιν vielmehr τοια έστιν entspricht: «so ist es».
«Das Seiende, wie es ist», τα δντα ώς έστιν, steht für Platon in der
Spannung von Wahrheit zur Täuschung; dem entgegen steht «das Seiende,
wie es nicht ist». Nicht nur Wahrheit und Täuschung rücken damit auseinan-
der, sondern auch das Seiende, die Dinge selber, und auf der anderen Seite
das «Wie sie sind oder nicht sind» im menschlichen Verhältnis von Wahrheit
oder Täuschung. Das drückt sich in der grammatischen Veränderung aus,
die der protagoreische Satz in der platonischen Paraphrase erfährt, indem er
zur Prädikation eines Subjekts wird: τα πραγματα οία έστιν; wobei πραγματα
offenbar das protagoreische χρήματα wiedergibt. Die χρήματα sind also τα
όντα als die Dinge selber, ώς έστιν ihr prädiziertes So-sein.
Mit dieser grammatischen Analyse kommt man aber bei Protagoras nicht
durch. Sie scheitert an der Fortsetzung: των δε ούκ δντων ώς ούκ έστιν. «Das
Nichtseiende, wie es nicht ist»: nicht einmal für Platon ergibt das eine Formu-
lierung für den falschen Satz, er muß dafür einsetzen: «das Seiende, wie es
nicht ist». Aber auch für Protagoras bestimmt das Maß des Menschen nicht
«das Nichtseiende, wie es nicht ist», sondern höchstens wie es ist. Die einzig
mögliche Übersetzung ist darum: «des Nichtseienden, daß es nicht ist».
Dieselbe Überlegung schließt aber auch die existentiale Auffassung von
seiend hier aus: der Mensch als Kriterium über Existenz oder Nichtexistenz
der Dinge. Ja wenn es hieße: των μεν ώς έστι, των δε ώς ούκ έστι; aber
welchen Sinn hätte der Satz, der Mensch sei das Maß der nicht-existenten
Dinge? Das Nicht-seiende ist vielmehr das Nicht-sein der negativen Prä-
dikationen, wie bei Aristoteles το μη λευκόν. So versteht es auch Platon im
Theätet (152 b 6): το πνεύμα ψυχρόν ή ού ψυχρόν φησομεν. Und so wird auch,
 
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