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Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie
umgekehrt, das Seiende in der Interpretation dieses Dialogs durchaus und
ganz selbstverständlich als Qualitäten aufgefaßt. Die Frage der Existenz von
Phantasiegebilden, Chimären oder Hippozentauren, und ihre Begründung
in der Subjektivität der Vorstellung führt vom Weg des Protagoras ab.
Der führte vielmehr direkt in die Medizin und ihre Aisthesis-Lehre, wie sie
in der Schrift Von der alten Heilkunst, mit Anspielung auf die «Aletheia»
des Protagoras, vorgetragen wird (cap. 20, I 622/4 L). Daher noch im
Platonischen Theätet die medizinischen Beispiele (166 eff.). (Die Frage der
Demokritischen Vermittlung lasse ich beiseite.)
Wenn aber das Seiende wie das Nichtseiende Qualitäten sind — oder sein
können —, dann verhalten «das Seiende» und «daß es ist» sich nicht wie
Subjekt und Prädikat (d. h. es wird nicht vom Seienden ausgesagt, daß es ist):
Prädikat ist bereits «das Seiende», und «daß es ist» seine epexegetische
Explikation. «Maß des Seienden und des Nicht-seienden» heißt: die Be-
messung dafür, daß (etwas) ist oder nicht ist.
Wir erhalten also denselben prädikativen Sinn von «Seiendem» wie bei
Platon in der Wendung τα όντα λεγειν, nur daß Platon, mit περί σου, noch
das logische Subjekt hinzufügt. Darauf, daß es bei Protagoras fehlt, soll man
nicht zu viel Gewicht legen; aber sein Fehlen macht es noch einmal deutlicher,
in welchem Maße das Sein als ein Einfaches gedacht wurde. Hier ist nicht
von Dingen und andererseits ihrem Sein oder Sosein die Rede; die όντα
sind selber das ausgesagte «So». Ich nenne es das einfache Sein in dem Sinne,
wie Aristoteles es in Met. Z 18 kritisiert hat (s. o. Seite 25).
Hinter der platonischen wie der protagoreischen Formulierung steht die
archaische Wendung το όν λεγειν, als die gebräuchliche, nicht auf die philo-
sophische Sprache beschränkte Phrase für «die Wahrheit sagen». Uns liegt es
nur allzu nahe, bei dem ov dieser Phrase an «Sachverhalte» zu denken,
die durch das Wort sein affirmiert werden. So gerade Charles Kahn — der im
übrigen am meisten dafür getan hat, den Begriff des Protagoreischen Seien-
den zu klären, indem er seinen prädikativen, nicht existentialen Charakter
erkannte (Foundations of Language 2, 1966, Seite 249 ff.). Trotzdem, scheint
mir, ist noch ein weiterer Schritt zu tun. Was Kahn die «veritative» Be-
deutung von sein nennt, gründet sich zunächst auf den absoluten Gebrauch
wie in έστι ταυτα, τον έοντα λογον. Diese Ausdrücke beziehen sich, wie
auch το όν λεγειν, auf Aussagen, ja auf ganze Reden und Darstellungen,
deren Inhalte wir als «Sachverhalte», zum Teil komplexer Art, bezeichnen
dürfen. Etwas anderes ist die Frage, als was sein, und zumal das Seiende,
dem frühen Denken bewußt geworden ist. Der «Sachverhalt» ist ein mo-
derner Begriff. Von «Sachverhalten» als der «Verbindung von Gegenständen
(Sachen, Dingen)» geht Wittgensteins Tractatus aus — den Sachverhalten
als den «Tatsachen»: «die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der
Dinge». In der Ersetzung der «Sachen» durch die «Tatsachen» und «Sach-
verhalte» dürfte eine bezeichnende Wendung des neuzeitlichen Denkens
sich andeuten. Auf Wittgenstein bezieht sich Kahn, wenn er die Protagorei-
Der Sinn von Sein in der älteren griechischen Philosophie
umgekehrt, das Seiende in der Interpretation dieses Dialogs durchaus und
ganz selbstverständlich als Qualitäten aufgefaßt. Die Frage der Existenz von
Phantasiegebilden, Chimären oder Hippozentauren, und ihre Begründung
in der Subjektivität der Vorstellung führt vom Weg des Protagoras ab.
Der führte vielmehr direkt in die Medizin und ihre Aisthesis-Lehre, wie sie
in der Schrift Von der alten Heilkunst, mit Anspielung auf die «Aletheia»
des Protagoras, vorgetragen wird (cap. 20, I 622/4 L). Daher noch im
Platonischen Theätet die medizinischen Beispiele (166 eff.). (Die Frage der
Demokritischen Vermittlung lasse ich beiseite.)
Wenn aber das Seiende wie das Nichtseiende Qualitäten sind — oder sein
können —, dann verhalten «das Seiende» und «daß es ist» sich nicht wie
Subjekt und Prädikat (d. h. es wird nicht vom Seienden ausgesagt, daß es ist):
Prädikat ist bereits «das Seiende», und «daß es ist» seine epexegetische
Explikation. «Maß des Seienden und des Nicht-seienden» heißt: die Be-
messung dafür, daß (etwas) ist oder nicht ist.
Wir erhalten also denselben prädikativen Sinn von «Seiendem» wie bei
Platon in der Wendung τα όντα λεγειν, nur daß Platon, mit περί σου, noch
das logische Subjekt hinzufügt. Darauf, daß es bei Protagoras fehlt, soll man
nicht zu viel Gewicht legen; aber sein Fehlen macht es noch einmal deutlicher,
in welchem Maße das Sein als ein Einfaches gedacht wurde. Hier ist nicht
von Dingen und andererseits ihrem Sein oder Sosein die Rede; die όντα
sind selber das ausgesagte «So». Ich nenne es das einfache Sein in dem Sinne,
wie Aristoteles es in Met. Z 18 kritisiert hat (s. o. Seite 25).
Hinter der platonischen wie der protagoreischen Formulierung steht die
archaische Wendung το όν λεγειν, als die gebräuchliche, nicht auf die philo-
sophische Sprache beschränkte Phrase für «die Wahrheit sagen». Uns liegt es
nur allzu nahe, bei dem ov dieser Phrase an «Sachverhalte» zu denken,
die durch das Wort sein affirmiert werden. So gerade Charles Kahn — der im
übrigen am meisten dafür getan hat, den Begriff des Protagoreischen Seien-
den zu klären, indem er seinen prädikativen, nicht existentialen Charakter
erkannte (Foundations of Language 2, 1966, Seite 249 ff.). Trotzdem, scheint
mir, ist noch ein weiterer Schritt zu tun. Was Kahn die «veritative» Be-
deutung von sein nennt, gründet sich zunächst auf den absoluten Gebrauch
wie in έστι ταυτα, τον έοντα λογον. Diese Ausdrücke beziehen sich, wie
auch το όν λεγειν, auf Aussagen, ja auf ganze Reden und Darstellungen,
deren Inhalte wir als «Sachverhalte», zum Teil komplexer Art, bezeichnen
dürfen. Etwas anderes ist die Frage, als was sein, und zumal das Seiende,
dem frühen Denken bewußt geworden ist. Der «Sachverhalt» ist ein mo-
derner Begriff. Von «Sachverhalten» als der «Verbindung von Gegenständen
(Sachen, Dingen)» geht Wittgensteins Tractatus aus — den Sachverhalten
als den «Tatsachen»: «die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der
Dinge». In der Ersetzung der «Sachen» durch die «Tatsachen» und «Sach-
verhalte» dürfte eine bezeichnende Wendung des neuzeitlichen Denkens
sich andeuten. Auf Wittgenstein bezieht sich Kahn, wenn er die Protagorei-